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Mehr arbeiten für weniger Geld

Ohne Tarifvertrag stehen Beschäftigte in der Druck- und Verpackungsindustrie deutlich schlechter da | Warum die Politik jetzt handeln muss |

Der Rückgang ist dramatisch: In Deutschland wird nur noch die Hälfte aller Beschäftigten nach Tarifvertrag bezahlt. Zur Jahrtausendwende waren es noch mehr als zwei Drittel. Welche Folgen dieser Tarif-Exodus für die Kolleg*innen hat, hat die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung ausgerechnet. Ohne Tarifvertrag müssen sie pro Jahr gut eine Woche länger arbeiten als Beschäftigte in vergleichbaren tarifgebundenen Betrieben. Zugleich bekommen sie mehr als ein volles Monatsgehalt weniger.

Doch das sind nur die Durchschnittswerte quer durch alle Branchen. In der Druckindustrie klafft zwischen tarifgebundenen und tariflosen Betrieben oft noch eine weitaus größere Lücke. Nehmen wir das Beispiel von Holzer Druck und Medien aus dem bayerischen Allgäu, wo jede Arbeitswoche fünf Stunden länger dauert als im Tarifvertrag (siehe hier). Im Jahr summiert sich das auf rund anderthalb Monate zusätzlicher Arbeit. Oder nehmen wir das Beispiel von GGP Media im thüringischen Pößneck.

Die zum Bertelsmann-Konzern gehörende Buchdruckerei und ihr Tochterunternehmen Print Service Center für die Broschürenproduktion sind gut im Geschäft. Nach eigenen Angaben erwirtschaften die rund 700 Beschäftigten einen Jahresumsatz von 120 Millionen Euro. Eine Million Druckerzeugnisse werde täglich hergestellt; auch die Autobiografie der Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel hat man gedruckt. Dennoch liegt der Ecklohn für Facharbeiter*innen hier derzeit nur bei rund 15,80 Euro pro Stunde – und das nach einer Erhöhung zum Jahreswechsel. Laut dem Tarifvertrag für Ostdeutschland wären eigentlich 18,68 Euro fällig, vom 1. Juli an sogar 19,05 Euro. Das heißt: Es gibt rund 15 Prozent weniger.

Urlaubs- und Weihnachtsgeld gewährt GGP Media als einmalige jährliche Sonderzahlung in Höhe von 850 Euro. Nach dem gerade neu verhandelten Manteltarif wäre es bis zu siebenmal so viel. Dass die Wochenarbeitszeit eine halbe Stunde kürzer ist, als es der Manteltarifvertrag Ost vorsieht, macht diese Nachteile nicht wett. Da überrascht es wenig, dass das Unternehmen zunehmend Schwierigkeiten hat, seine offenen Stellen zu besetzen. »Viele gut ausgebildete Kolleg*innen sind abgewandert«, heißt es aus dem Betrieb. Und neue Auszubildende finde man kaum noch. Schichtarbeit plus schlechte Bezahlung – das schrecke ab. Bei Holzer im Allgäu ist das kaum anders. Zumal das nahe Österreich lockt, wo die Tarifbindung so hoch ist, dass nahezu alle Beschäftigten ein 13. und 14. Monatsgehalt kassieren. In Zeiten des Fachkräftemangels können schlechte Arbeitsbedingungen zum Wettbewerbsnachteil werden. Anderswo scheint man das verstanden zu haben. Beim Verpackungshersteller DS Smith sind sämtliche der rund 20 deutschen Standorte tarifgebunden – bis auf einen: Das kleine Werk im mittelsächsischen Polkenberg, wo mit 40 Beschäftigten Kartons produziert werden, gehört seit 2012 zu dem britischen Großunternehmen. Vier Jahre später beschloss DS Smith, hier nur noch 80 Prozent des Tariflohns Ost zu zahlen. Seither wurden zwar alle Tariferhöhungen mitgemacht und auch darüber hinaus gab es noch das eine oder andere Plus: »Das haben sie gemacht, wie sie lustig waren«, sagt Betriebsratsvorsitzender Daniel Klitzsch. Lohnpolitik nach Gutsherrenart. Zum vollen Tariflohn aber fehlte immer noch ein gutes Stück. Im vergangenen Jahr stimmte DS Smith nun einer Vereinbarung mit dem Betriebsrat zu, diese Lücke zu schließen. Bis 2027 sollen durch gleichmäßige jährliche Erhöhungen die 100 Prozent erreicht werden. Vorausgesetzt, die wirtschaftliche Entwicklung lasse das zu – diese Hintertür hat sich das Unternehmen offengehalten.

Erreicht habe man das, berichtet Klitzsch, vor allem durch gutes Zureden. »Es heißt immer: Wir sind bei DS Smith eine Familie. Wie kann es da sein, dass wir in Polkenberg schlechter bezahlt werden?« Was Zuschläge, Urlaubs- und Weihnachtsgeld angeht, hat sich das Unternehmen auch in Mittelsachsen immer an die Regelungen des Manteltarifs für die Papier, Pappe und Kunststoffe verarbeitende Industrie gehalten. Die Wochenarbeitszeit liegt mit 40 Stunden allerdings zwei Stunden über dem Soll.

Um echte Tarifbindung zu erkämpfen, hat ver.di in dem Werk zu wenige Mitglieder. »Von Tarifverhandlungen profitieren, aber nicht in der Gewerkschaft sein – das ärgert mich«, sagt der Betriebsratsvorsitzende Klitzsch. Bei GGP Media in Thüringen, bei Holzer im Allgäu und bei vielen anderen Betrieben überall im Land sieht das ähnlich aus. Es braucht Gewerkschaftseintritte, damit Druck gemacht und ein Tarifvertrag notfalls auch erstreikt werden kann.

Im Kampf gegen Niedriglöhne und die grassierende Tariflosigkeit ist aber auch die Politik gefordert. Die Europäische Union hat ihren Mitgliedsstaaten aufgegeben, einen Aktionsplan für mehr Tarifbindung vorzulegen, wenn weniger als 80 Prozent der Beschäftigten unter dem Schutz eines Tarifvertrags arbeiten. Deutschland ist von dieser Zielvorgabe meilenweit entfernt.

Im Koalitionsvertrag der neuen schwarzroten Bundesregierung ist deshalb ein Bundestariftreuegesetz vorgesehen. Es würde vorschreiben, dass sich Unternehmen, die vom Bund beauftragt werden, an Tarifverträge halten müssen. »Ein wichtiges Instrument«, urteilt Thorsten Schulten, Tarifexperte der Hans-Böckler-Stiftung (siehe Interview). »Aber zu wenig, wenn man den Trend brechen will.«