Unterwegs zum letzten Schriftgießer
Rainer Gerstenberg ist der einzig verbliebene Meister seiner Kunst. Doch wohin mit den Matern und Maschinen? Gutenbergs Erbe sucht eine Werkstatt.
Der alte Herr sitzt in seinem riesigen Garten und hört Rockmusik. Sein Besucher hat sich verspätet – das Wohnhaus von Rainer Gerstenberg am Südrand von Frankfurt ist nicht leicht zu finden. Als er endlich kommt, freut sich der Mann mit dem weißen Haarschopf, dass da einer Interesse an seinem Schatz hat.
Kerzengerade geht der 77-Jährige durch die picobello gepflegte Grünanlage (»mein Ausgleichssport«) und schließt die Tür zu einem niedrigen Häuschen mit einer voll eingerichteten Foliendruck-Werkstatt auf. »Die habe ich früher nebenbei betrieben. Jetzt kommt das ja alles aus China.« Die Schatzkammer befindet sich dahinter: ein zwölf Quadratmeter großer Raum voller flacher Schubladen. Darin liegen nach Größe sortiert die Prägetypen der Diethelm-Antiqua und der Newberry-Detterer in selbst geschreinerten Holzkästchen. Es sind die lateinischen, arabischen und auch chinesischen Buchstaben und Schriftzeichen, die seine Kundschaft in Europa, den USA und Asien am häufigsten nachfragt. Auf der ganzen Welt kann nur noch Rainer Gerstenberg solche Bleischriften ergänzen oder neu gießen.
Warum er nicht in die Werkstatt darf
Genauer: Er könnte es. Wenn er noch an seine Maschinen herankäme. Die stehen 28 Kilometer südlich an der Kirschenallee 88 in Darmstadt. Da hat ihn DRUCK+PAPIER 2018 schon mal besucht (t1p.de/dp-1-2018-Auszeit) – den Hüter von 53 tonnenschweren Schriftgussmaschinen und der weltgrößten Matern-Sammlung. »Seit dem 1. Januar darf ich in meiner Werkstatt nicht mehr arbeiten.« Martin Faass, der Direktor des Hessischen Landesmuseums, hat die Druck- und Schriftgussabteilung in der ehemaligen Möbelfabrik geschlossen. Bauliche Mängel machten eine weitere Nutzung zu gefährlich, hieß es zur Begründung. Gerstenberg sieht das anders. Erst um die Jahrtausendwende seien neue Böden in den denkmalgeschützten vierstöckigen Ziegelbau eingezogen worden.
Das Welterbe muss bleiben
Wohin mit all den Matern und Schriftgussmaschinen? Allein der Umzug würde eine sechsstellige Summe kosten, schätzt Rainer Gerstenberg. Das sei dessen Problem, meint Museumsdirektor Faass. Auch sein Vorgesetzter, der hessische Wirtschaftsminister Timon Gremmels (SPD), stuft die Schriftgießerei als Gewerbebetrieb ein, für den der Staat keine Verantwortung hat. Dabei sind die Matern, die Maschinen und Gerstenberg selbst als letzter Meister seiner Kunst ein Welterbe der Menschheit, findet Dorothee Ader. Die Direktorin des Klingspor-Museums in Offenbach sagt: »Der Schriftguss ist die wesentliche Erfindung, die Gutenberg machte.« Man müsse ihn für die Nachwelt erhalten.
Die Stadt Offenbach scheint grundsätzlich bereit zu sein, Gerstenbergs Schatz zu übernehmen. Vorausgesetzt, der Meister kann sofort beginnen, mindestens einen jungen Menschen auszubilden. Dorothee Ader hat Geld dafür aufgetrieben und auch einen Kandidaten. Aber dafür müssten Meister und Azubi in der gesperrten Werkstatt arbeiten dürfen. »Es hängt total in der Luft«, sagt die Klingspor-Direktorin seufzend. Die Zeit drängt. Wie lange bleibt Rainer Gerstenberg noch fit?
Der Meister hat einen Plan B. Einmal im Jahr fährt er für eine Woche nach Douai. In der französischen Nationaldruckerei an der belgischen Grenze zeigt er einem jungen Mann, wie man Schriften gießt. Aber dort gibt es nur einen begrenzten Maschinenpark. Die vielen auf den Didot-Punkt bezogenen Schriften kann man dort nicht herstellen. Rainer Gerstenberg setzt sich wieder auf seinen Gartenstuhl und schüttelt den Kopf. »Es ist ein Dilemma.«