Aus den Betrieben

»Schämt ihr euch eigentlich gar nicht?«

Mayr-Melnhof schließt Werk in Heilbronn | Feier auf Firmenkosten mit Elchjagd und Privatjet

Jetzt erst recht! Zeit für höhere Löhne (v.li.): Wolfgang Haupt von ver.di, Betriebsratsvorsitzender Serkan Ince, Andreas Kirchgeßner, ver.di.

Mayr-Melnhof macht zum 31. Mai das Werk Schilling in Heilbronn dicht. Betroffen sind rund 160 Beschäftigte. Viele von ihnen arbeiten seit mehr als 20 oder 30 Jahren im Werk. Sie machen sich, wie Betriebsratsvorsitzender Serkan Ince sagt, Sorgen um ihre Existenz. Zurzeit verhandeln ver.di und der Betriebsrat einen Sozialplan und Interessenausgleich.

Als Grund für die Schließung nennt der österreichische Verpackungskonzern die sinkende Nachfrage bei Pulverwaschmitteln. Weil Verbraucher*innen verstärkt Flüssigwaschmittel kauften, sei der Umsatz im Werk Schilling – dort werden die Verpackungen aus Papier und Karton produziert – seit 2017 stark eingebrochen.

Dieses Argument passt allerdings nicht zu den Zahlen des Industrieverbands Körperpflege- und Waschmittel. Dort beobachtete man in den Jahren 2020 und 2021 einen Umsatzrückgang bei beiden Waschmitteln von knapp 9 Prozent (Pulver) und 7,3 Prozent (flüssig). Als Ursache werden die »im ersten Corona-Jahr in einigen Haushalten angelegten Vorräte« ausgemacht, die im Folgejahr aufgebraucht worden seien.

Das österreichische Wirtschaftsmagazin Trend sieht für Verpackungen aus dem Hause Mayr-Melnhof sogar beste Aussichten: Als europaweit führender Produzent von Karton und Faltschachteln gewinne der Konzern »im Zuge der Nachhaltigkeit und der Vermeidung von Plastikmüll weiter an Bedeutung«.

Produktion nach Polen

Betriebsratsvorsitzender Serkan Ince erstaunt das Argument vom angeblichen Umsatzeinbruch. »Im vergangenen Jahr haben wir jede Menge Zusatzschichten gemacht, um die Aufträge zu schaffen. Das Unternehmen hat sogar Antrittsgelder bezahlt als Anreiz für Wochenendschichten.« Von Umsatzeinbrüchen keine Spur. Sogar nach Bekanntgabe der Werksschließung habe die Produktionsleitung nach Sonderschichten gefragt, erzählt Ince. »Schämt ihr euch eigentlich gar nicht?«, habe er zurückgeschrieben.

Ince vermutet vielmehr eine Verschiebung der Produktion nach Polen. Dort besitzt Mayr-Melnhof Karton fünf Werke. 2021 investierte der Konzern nach eigenen Angaben rund 35 Millionen Euro in Neupack Polska. In den zwei Werken in Bydgoszcz liegen die Schwerpunkte auf Verpackungen, unter anderem für Waschmittel. Dort wird eine Verdoppelung des Standorts angestrebt, ebenso ein Neubau eines Verpackungswerkes nahe Warschau, »um am Marktwachstum in Zentral-Ost-Europa zu partizipieren und günstigere Kosten zu nutzen.« In keinem anderen Land beschäftigte der Konzern mehr Mitarbeiter*innen als in Polen. Derzeit hat sich Mayr- Melnhof zum Gesprächsthema in der linksliberalen österreichischen Wochenzeitung Falter gemacht: Der Konzern lud im vergangenen Oktober – eine Woche vor dem 60. Geburtstag des Vorstandsvorsitzenden Peter Oswald – österreichische Spitzenmanager zu einem sogenannten Expertenseminar in den Berghof Henvålen nach Schweden ein. Eine Edellodge mit Pool, Sauna, Weinkellerei, Elch-Schlachterei und Tankstelle für Helikopter. Das hatte der Falter im Februar auf Basis von Informationen eines Whistleblowers berichtet.

Die Eingeladenen waren mit einem Challenger-300-Jet angereist, ein »super-midsize« Geschäftsreiseflugzeug, gebaut für transkontinentale Distanzen. Von dort waren die Männer offensichtlich mit einem Helikopter ins Jagdgebiet gebracht worden. Sie erlegten acht Elche, die – zum Schutz des Geländes an den Beinen hochgezogen – ausgeflogen wurden.

»Freunderlwirtschaft«

Der Pressesprecher von Mayr-Melnhof erklärte auf Anfrage des Falter, dass die »Mayr-Melnhof-Gruppe die Compliance und ihren Verhaltenskodex sehr ernstnehme.« Die besagen, dass Beschäftigte im Rahmen ihrer geschäftlichen Tätigkeit »weder direkt oder indirekt unberechtigte Vorteile fordern, annehmen bzw. anbieten und gewähren« dürfen. Ausgenommen seien lediglich allgemein übliche Bewirtungen und gelegentliche Zuwendungen von nachweisbar geringem Wert.

Im Gespräch mit DRUCK+PAPIER zeigt sich Chefredakteur Florian Klenke, mehrfach ausgezeichneter Enthüllungsjournalist, wenig verwundert, dass das »Sittenbild« im Falter kaum öffentlichen Widerhall gefunden hat. »In Österreich war das kein Thema.« Nicht überraschend: Eine sogenannte Freunderlwirtschaft kennzeichnet die Beziehungen in Österreichs Politik- und Wirtschaftsführungsschichten, wie jüngst das Handelsblatt die Korruptionsstaatsanwaltschaft aus Wien zitierte.

Der Artikel aus dem Falter kursiert dagegen unter den Beschäftigten und Betriebsräten der Mayr-Melnhof-Werke in Deutschland. Und bei den Mitgliedern des Europäischen Betriebsrats, der seit Jahren mit dem Konzern um die Begleichung von – oft geringen – Reise- und Übersetzungskosten kämpfen muss.

Geschäftsfelder

Mayr-Melnhof Karton ist eine börsennotierte Aktiengesellschaft mit Sitz in Österreichs Hauptstadt Wien. Das Unternehmen unterscheidet MM Board & Paper (ehemals MM Karton) sowie MM Packaging (u.a. Faltschachteln). Mayr-Melnhof hat nach eigenen Angaben 49 Produktionsstandorte auf 3 Kontinenten, 6 Karton- und Papierwerke und 43 Packaging-Standorte. In Deutschland gibt es noch 10 Packaging-Werke. Im September 2021 wurde das MM-Graphia-Werk in Bielefeld geschlossen. Weltweit arbeiten knapp 12.500 Beschäftigte bei dem Konzern. Dieser erzielte 2021 einen Gewinn vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen (EBITA) von 421 Millionen Euro.

Eigentümer

Die Mehrheit der Aktien von Mayr-Melnhof Karton gehört der Familie Mayr-Melnhof, 43 Prozent sind im Streubesitz. Die österreichische Unternehmerfamilie ist nach Angaben des Online-Lexikons Wikipedia im 19. Jahrhundert in der Stahl- und Hüttenindustrie zu großem Wohlstand gekommen und erwarb den größten Privatforstbetrieb Österreichs.