Wildwest auf dem Papiermarkt
Lange Lieferzeiten, explodierende Preise: Warum Papier derzeit so knapp und so teuer ist – und was das für Druckereien, Verlage und Beschäftigte bedeutet
Könnte knapp werden
Bücher erscheinen später als angekündigt, Zeitungen verringern ihren Umfang und kurzzeitig waren in der Schweiz manche Briefmarken nicht zu haben. Der Grund: Papiermangel. Nach Jahren und Jahrzehnten, in denen die Druckindustrie bei ihrem Hauptwerkstoff stets auf kurzfristigen Nachschub und halbwegs stabile Preise vertrauen konnte, ist seit dem vergangenen Jahr alles anders. Weil es nicht mehr genügend Papier gibt, explodieren die Preise und Lieferzeiten. »Die Lage ist tatsächlich ziemlich dramatisch«, sagt der Volkswirt Thomas Meyer-Fries, der Betriebsräte in der Druckindustrie in wirtschaftlichen Fragen berät. »Vor allem für kleinere Betriebe können die Auswirkungen bedrohlich sein.«
Zu wenig Altpapier
Aber woran liegt es, dass Papier zur Mangelware geworden ist? Das hat – wie so vieles in diesen Zeiten – mit Corona zu tun. Die Pandemie hat nicht nur die internationalen Lieferketten gestört und damit den Import von Rohstoffen, also von Zellstoff und Altpapier, erschwert und verteuert. Sie hat auch im Inland den Verbrauch von grafischem Papier für Printprodukte erheblich zurückgehen lassen: Im Lockdown brauchte niemand Werbebeilagen, Veranstaltungsflyer, Zeitungsanzeigen. Als das öffentliche Leben wieder losging, stieg die Nachfrage umso schneller wieder an – und stärker, als sie bedient werden konnte.
Zugleich war, weil weniger gedruckt wurde, auch weniger Altpapier angefallen. In den Zahlen des Statistischen Bundesamts ist nachzulesen, wie sich das auf die Preise auswirkt: Hochwertige Deinking-Ware, wie sie für Zeitungspapier benötigt wird, war im Januar um 75 Prozent teurer als im Durchschnitt der vergangenen zehn Jahre. Und dreimal so teuer wie im März 2020, als die Altpapierpreise im Keller waren.
Nachfrage sinkt und sinkt
All das könnte sich irgendwann wieder entspannen. Auch der Streik, der die finnischen Werke von Europas größtem Papierkonzern UPM seit Beginn des Jahres lahmlegt und den Papiermangel zusätzlich verschärft, wird nicht endlos dauern.
Doch für ein anderes, grundsätzlicheres Problem gilt das nicht. Die Nachfrage nach grafischen Papieren schrumpft seit Jahren kontinuierlich; dafür wächst der Bedarf an Papieren, Pappen und Kartonagen für Verpackungen. Ein Langfristtrend, der durch den Boom von Online-Handel und Lieferdiensten während Corona beschleunigt wurde.
Maschinen dauerhaft umgerüstet
Etliche Papierhersteller haben deshalb auf Verpackungsmaterialien umgestellt. Eine dauerhafte Entscheidung sei das, erklärt Gregor Andreas Geiger, Sprecher des Verbands der Papierindustrie, weil sich die zeitaufwendige und millionenschwere Umrüstung der Maschinen nicht mal eben rückgängig machen lasse. Und dass irgendein Unternehmen noch einmal in neue Produktionskapazitäten für grafische Papiere investiert, kann er sich nicht vorstellen. »Wir sehen das Problem, dass das Medium Print Schaden nimmt«, sagt Geiger. »Aber ich kann den Herstellern ihre Entscheidung nicht verübeln.«
Probleme für das Medium Print: Einer, der erzählen kann, was das konkret bedeutet, ist Martin Kümmerling. Beim Medienunternehmen VRM – mit mehr als einem Dutzend Tageszeitungen und Anzeigenblättern in Rheinland-Pfalz und Hessen eine der großen Verlagsgruppen in Deutschland – leitet er als Geschäftsführer die Druckerei in Rüsselsheim. »Der Preis für Zeitungspapier hat sich in einem Jahr fast verdoppelt.« Mehr als 700 Euro pro Tonne seien zurzeit zu berappen. »Das ist der höchste Papierpreis seit Beginn der 1970er-Jahre.« Und nach wie vor komme es vor, dass zugesagte Liefermengen von den Herstellern reduziert würden.
Wie die meisten Verlagshäuser, sagt Kümmerling, habe VRM auf die Papierkrise reagiert, indem man den Seitenumfang der Tageszeitungen verringert, die Abopreise erhöht und die eine oder andere Gratiszeitung vom Markt genommen habe – wohl für immer. Immerhin: Am Personal wurde in der Rüsselsheimer Druckerei bislang nicht gespart. »Was den Arbeitsanfall angeht, macht es ja keinen Unterschied, ob ich eine Zeitung mit 36 oder mit 32 Seiten drucke«, erklärt der Geschäftsführer.
Anders als beim Zeitungsdruck braucht es bei der Buchproduktion nicht nur eine einzige Papiersorte, sondern ein ganzes Spektrum – von Papieren in unterschiedlichen Qualitäten und Grammaturen für den Innenteil über Spezialpapiere für Vorsätze und Schutzumschläge bis zu Karton und Pappen für Buchdecken. Entsprechend größer sind die Probleme, mit denen Buchdruckereien wegen der Lieferengpässe zu kämpfen haben. Von mehrmonatigen Wartezeiten berichtet Christian Clement, Betriebsratsvorsitzender bei Ebner & Spiegel in Ulm. »Dabei sind wir darauf angewiesen, dass uns die Materialien recht kurzfristig zur Verfügung stehen.« Ein Verlag, der einen Bestseller nachdrucken möchte, wolle das sofort. Und nicht irgendwann.
Kosten steigen und steigen
Wegen der ständigen Ungewissheit, wann wie viel Papier geliefert wird, sei die Produktionsplanung deutlich erschwert, sagt Clement. Und: Die Kosten steigen und steigen. Nicht selten werde der Preis sogar nach der Bestellung noch einmal erhöht. »Dann heißt es: Entweder Sie bezahlen den Preis oder jemand anders nimmt das Papier«, erzählt der Betriebsratsvorsitzende. »Es ist Wildwest.«
Ebner & Spiegel, eine der größten Buchdruckereien in Deutschland, gehört zum Branchenriesen CPI. Die Marktmacht hilft dem Unternehmen bei der Papierbeschaffung. Kleinere Betriebe trifft die Nachschubkrise härter. Es gibt sogar bereits einzelne Druckereien, die deshalb Kurzarbeit anmelden mussten: Sie hatten zwar Aufträge, konnten sie aber mangels Papier nicht erfüllen.
Unternehmen rufen nach dem Staat
Wie geht es weiter? Der Bundesverband Druck und Medien (bvdm), der im Herbst noch per Pressemitteilung eine »eskalierende Situation« an den Papiermärkten beklagte und die Papierhersteller in scharfen Worten zur Einhaltung von Preis- und Lieferzusagen aufforderte, ist umgeschwenkt und sucht den Schulterschluss mit dem Verband der Papierindustrie: Beide Unternehmerverbände fordern die Bundesregierung auf, etwas gegen die steigenden Energiepreise zu tun. Denn auch das ist ein Kostenfaktor, der zur Verteuerung des Papiers beiträgt.
Prognose eher verhalten
Ebner & Spiegel-Betriebsrat Clement ist durchaus optimistisch, dass sich die Preise – wenn sich Sondereffekte wie Transportprobleme oder der Streik in Finnland eines Tages erledigt hätten – wieder auf Vorpandemieniveau einpendeln werden. VRM-Druck-Geschäftsführer Kümmerling hingegen rechnet damit, dass der Papierpreis auch in drei bis fünf Jahren noch deutlich über dem Langzeitdurchschnitt liegen wird. Wann könnte sich die Verfügbarkeit wieder normalisieren? Der Papierindustrie-Sprecher Geiger will da keine Prognose wagen. »Wir wissen es wirklich nicht.«
Vom Rohstoff zum Wertstoff
Smurfit Kappa schließt Kreislauf
Olaf Pusch freut sich: »Der Einstieg ist geglückt!« Er ist einer der Geschäftsführer der neugegründeten Firma Recycling Dual. Die gehört zum internationalen Verpackungskonzern Smurfit Kappa, der ins Duale System eingestiegen ist. Zum Start in diesem Jahr konnte Recycling Dual nach eigenen Angaben Verträge mit fast 2.000 Unternehmen abschließen, um deren Produktverpackungen sammeln zu lassen. Heute streiten sich auf dem umkämpften Milliardenmarkt des Dualen Systems bundesweit elf Unternehmen. Recycling Dual ist eines der kleinsten.
Warum das alles? Um beim begehrten Altpapier nicht abhängig von externen Lieferanten zu sein. Smurfit Kappa hebt sich laut Eigenwerbung von anderen Firmen durch einen geschlossenen Kreislauf ab: von der Papierherstellung über die Produktion von Verpackungen bis zu deren Einsammeln – um daraus wieder Papier herzustellen.
fws