Druckindustrie

Von Toluol, Papierstaub und müden Knochen

Rückblick eines ehemaligen Auszubildenden auf die Arbeit bei Broschek | Die Tiefdruckerei in Hamburg wurde vor zehn Jahren geschlossen

Foto: Harald Frey

Moritz Herbst begann 1984 bei Broschek in Hamburg seine Ausbildung zum Tiefdrucker und blieb nach der Prüfung ein halbes Jahr. Die Zeit ist geprägt von Wechselschichten, Lärm und Lösemitteldämpfen, aber auch von kämpferischen Betriebsräten und hilfsbereiten Kollegen. Und dem erhabenen Gefühl, erstmals die Rotation hochzufahren.

Wie Moritz Herbst seine Zeit als Auszubildender erlebt hat, schildert er hier.

Der Tiefpunkt war meist zwischen zwei und drei Uhr morgens. Der Körper will schlafen und versteht nicht, warum er hier an der Rotation steht. Die Papierbahn rast durch die zehn Druckwerke, überall Papierstaub. Trotz der Ohrstöpsel ist es laut.

Der Maschinenkontrollstand ist außerhalb der Box, in der die dreistöckige Druckmaschine läuft. Aber für jeden Arbeitsschritt direkt an der Maschine wird die Tür der Box geöffnet – man muss ran an die vibrierenden Druckwerke. Verständigen können wir uns nur durch Brüllen.

Die tonnenschweren Druckzylinder rotieren; auf der Druckmaschinenverkleidung klebt ein dünner Film. Eine Verbindung aus dem Schmieröl, das bei der hohen Laufgeschwindigkeit zwischen den Achsen der Druckzylinder und den Lagern verdunstet, und dem Metallabrieb von den Rakelmessern, mit denen die überschüssige Farbe vom Druckzylinder abgezogen wird.

Wenn es einen Reißer gibt, müssen alle Drucker rein und die über zwei Meter sechzig breite Papierbahn über die Wendestangen wieder durch die zehn Druckwerke führen. Fünf für den Schöndruck, fünf für den Widerdruck. In den Farbwannen schwimmt die dünnflüssige Druckfarbe auf Toluolbasis.

Das meiste verdunstete Toluol aus den Farbwannen wird über riesige Rohre mit trichterförmigen Öffnungen abgesaugt, aber nicht alles. Gearbeitet wird zum Teil ohne Handschuhe, Farbreste wischen sich die Tiefdrucker und Helfer mit in Toluol getränkten Lappen ab. Andere, nicht gesundheitsgefährdende Lösungsmittel für die Tiefdruckfarben sind teurer und weniger effektiv. Also Toluol.

Arbeiten, während andere schlafen

Toluol stand lange im Verdacht, krebserregend zu sein. So berichtete Der Spiegel 1994 über die schädliche Wirkung von Toluol auf Menschen. Basierend auf einer Untersuchung von Arbeitern einer Tiefdruckerei. »Bei Beschäftigten, die länger als 16 Jahre im Tiefdruck arbeiteten, war die Anzahl von deformierten Erbinformationsträgern in den Zellen wesentlich höher als bei den Kollegen, die erst kürzer dabei waren«, hieß es im Magazin.

»Bei ersten Gesundheitsuntersuchungen hatten die Drucker sich über ständig trockene Schleimhäute in Mund, Nase und Rachen beklagt. Sonst war nichts weiter aufgefallen. Als die Forscher sie jedoch einige Jahre später zur Nachuntersuchung baten, gab es eine böse Überraschung: Vier der insgesamt 60 untersuchten Tiefdrucker waren mittlerweile an Krebs gestorben.«

Dass Toluol krebserregend ist, wurde durch die Studie »Toluol in Tiefdruckereien«* des Instituts für Arbeitsphysiologie an der Universität Dortmund aus dem Jahr 2001 nicht bestätigt. Allerdings kann Toluol zu Gesundheitsschäden führen.

Zurück zur Nachtschicht an der Tiefdruckrotationsmaschine. Gedruckt wird der jährliche Ikea-Katalog in Millionenauflage. Heute ist der Druckbogen mit den Betten dran, die ganze Nacht durch: 32 Katalogseiten mit Betten, Matratzen, Decken, Bezügen. Statt im Bett zu liegen, achte ich auf den Passer beim Fortdruck.

Die gesamte Maschinenbesetzung reagiert nachts um zwei Uhr fahriger als sonst, wenn beim Rollenwechsel die Papierbahn reißt, der Passer nicht mehr stimmt oder Dreck an einem Rakelmesser ist. Es arbeiten so viele Drucker an den Maschinen, wie es die Maschinenbesetzung vorsieht. Tarifvertraglich geregelt, durch Streiks erkämpft.

Bei Warnstreiks vorne dabei

Die Druckerei Broschek war für ihren hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad, einen kämpferischen Betriebsrat und eine kämpferische Belegschaft bekannt. Bei Warnstreiks in den Tarifrunden war Broschek vorneweg dabei: Mehr Lohn, bessere Arbeitsbedingungen – dafür stand eine Mehrheit der Beschäftigten ein. Wenn es nötig war, was alle zwei, drei Jahre vorkam, ließ sich die Belegschaft in Tarifrunden innerhalb weniger Stunden zum Warnstreik vor das Fabriktor am Bargkoppelweg 61 rufen.

In der Belegschaft wurde darauf geachtet, dass tarifliche Vereinbarungen eingehalten wurden. Zwei von der Maschinenbesetzung, ein Drucker und ein Helfer, waren im Pausenraum neben dem Drucksaal – wie die unwirtliche, rein funktional eingerichtete Fabrikhalle genannt wurde. Wenn sie nach 30 Minuten aus der Pause zurückkamen, konnten die Nächsten gehen.

Walzenwechsel – zu zweit und mit Kraft
Foto: Werner Bachmeier

Von guter Arbeit war das alles dennoch weit entfernt. Erst im Laufe der 1990er-Jahre wurde getestet, ob Toluol als Lösemittel in den Farbrezepturen ersetzt werden konnte. Maßgeblich hierfür waren gezielte Kampagnen der damaligen Industriegewerkschaft Druck und Papier (Vorläufer der IG Medien und ver.di) und ihrer Schwesterorganisationen in Europa.

Nicht nur Toluol und Lärm setzen dem Körper zu. Auch der Schichtbetrieb belastet. Gearbeitet wird in drei Schichten rund um die Uhr und im wöchentlichen Wechsel: Frühschicht, Spätschicht, Nachtschicht. Die Nacht beginnt um 22 Uhr und endet morgens um 6 Uhr. Weil Nachtarbeit für Frauen im produktiven Gewerbe bis 1992 verboten war, war der Drucksaal eine absolute Männerdomäne. Wir Auszubildende liefen an den Maschinen mit. Eine Lehrwerkstatt gab es 1984 bei Broschek nicht mehr – wir versuchten, uns möglichst viel abzugucken. Einen Maschinenleitstand selbst zu dirigieren, habe ich erst zwei Tage vor meiner praktischen Abschlussprüfung länger üben können. Die dreistöckige Rotation selbst hochzufahren, war eine tolle Erfahrung. Aber in der laufenden Produktion war meine Tätigkeit in der Regel auf kleinere Arbeiten auf Zuruf beschränkt.

Superscharfe Schneiden

Und es gab Zuarbeiten, die die Maschinenführer an uns Auszubildende delegierten: den Ölstand der Motorenblöcke der Druckmaschinenmotoren im Papierkeller zu kontrollieren oder neue Rakelmesser in die Halterungen zu spannen. Die Rakelmesser nutzten sich ab. Spätestens wenn ein Druckzylinder sich eine halbe Million Mal gedreht hatte, war das Rakel abgenutzt.

Rakelmesser waren allerdings unverzichtbar, denn an ihnen wurde die überschüssige Farbe abgestreift, nachdem ein Druckzylinder durch die Farbwanne gelaufen war. Nur in den napfförmigen Vertiefungen, in den mikroskopisch klein eingravierten Löchern in der Kupferbeschichtung der Druckzylinder, sollte die Farbe verbleiben, um auf die Papierbahn gedruckt zu werden. Durch die unterschiedliche Tiefe der Löcher wurde unterschiedlich viel Farbe auf das Papier gedruckt – so entstand die feine Farbbrillanz, für die der Illustrationstiefdruck bekannt ist.

Die Rakelmesser waren dünne Stahlbänder mit einer superscharfen feinen Schneide. Beim Einsetzen der Rakelmesser brauchte man eigentlich Handschuhe, um sich nicht zu schneiden – aber dann hatte man nicht genug Feingefühl in den Fingern, um das Blech millimetergenau und ohne Wellen zu justieren. Obwohl es auch erfahrene Kollegen gab, denen das mit Handschuhen gelang. Die Narben an den Händen von den Schnitten, wenn mal was schiefging, sind mir geblieben.

Manchmal entzogen wir Auszubildende uns in andere Abteilungen oder auf die Toilette, um wenigstens ein paar Minuten dem Lärm, den Toluoldämpfen und der Monotonie an der Rotation zu entgehen. Während ich dort saß, spürte ich, wie fremd mir mein Körper war: schmutzig, mit Resten von Farbe und Lösemittel bis in die Haarspitzen.

Moritz Herbst, 57, hat nach seiner Zeit bei Broschek bei Verlagen gearbeitet und ist heute als Verwaltungsangestellter bei ver.di in Hamburg beschäftigt. Er veröffentlicht nebenbei Artikel.

Die Druckmaschinen bei Broschek wurden in der Nacht vom 12. auf den 13. April eine nach der anderen ein letztes Mal heruntergefahren. Tags darauf wurde die Produktion eingestellt und fast die gesamte Belegschaft dem Arbeitsamt übergeben. Im Dezember, einen Tag vor Weihnachten, verließ der Betriebsratsvorsitzende Kai Schliemann als Letzter den Betrieb. Broschek war Geschichte.

Heute gibt es nur noch wenige Tiefdruckereien – selbst der Ikea-Katalog wurde kürzlich eingestellt.

*Die Studie »Toluol in Tiefdruckereien« war vom Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften beauftragt und u.a. vom Bundesverband Druck und Medien sowie ver.di unterstützt worden. t1p.de/Toluol