Druckindustrie

Die letzte Schicht

Bertelsmann schließt Nürnberger Tiefdruckstandort | Viele Beschäftigte sind bereits ausgeschieden | Manche suchen verzweifelt neue Arbeit

Es ist Tradition, am 30. April ein Feuer anzuzünden, um böse Geister zu vertreiben. Bei Prinovis in Nürnberg wird in der Walpurgisnacht aber niemandem nach Feiern zumute sein. Am 30. April ist dort Schicht. Ein letztes Mal fahren die Drucker die Rotation runter, danach werden die Tiefdruckmaschinen verschrottet. Auch die beiden über vier Meter breiten Maschinen, die erst 2004 und 2005 angeschafft wurden. Bertelsmann schließt die einst modernste und größte Tiefdruckerei Europas.

Es ist auch für Thomas Scharrer der letzte Arbeitstag. Am Tag der Arbeit hat er keinen Job mehr. Dann ist er Ex-Betriebsratsvorsitzender. Er wird seinen Schreibtisch aufräumen und die Tür hinter sich schließen. »Ich will gar nicht daran denken.« 56 Jahre ist er alt, 41 Jahre hat er in der Druckerei an der Breslauer Straße in Nürnberg-Langwasser gearbeitet. Sein ganzes Arbeitsleben.

Zu »Kampfpreisen« gedruckt

Angst vor dem, was kommt, hat er nicht. Was er nicht will, weiß er genau: nie mehr Schichtarbeit, keinen Job in der Produktion, keine Vollzeitstelle und auch nicht mehr die Last der Verantwortung eines Betriebsratsvorsitzenden. »Mir sind die vergangenen Jahre an die Nieren gegangen.«

Die guten Zeiten hat Scharrer auch miterlebt. Als der Quelle-Katalog, dicker als ein Telefonbuch und in allen Haushalten präsent, jedes Frühjahr und jeden Herbst mit einer Millionen-Auflage gedruckt wurde. Prinovis verdiente prächtig. Andere Aufträge für die Zeit zwischen den Quelle-Katalogen produzierte die Druckerei »zu Kampfpreisen«, sagt Scharrer. Sprich: Ob damit Geld verdient wurde, war zweitrangig, Hauptsache, der Konkurrenz wurde der Auftrag weggeschnappt.

Den Quelle-Katalog druckte die Nürnberger Belegschaft 2009 zum letzten Mal. 2008 schloss Prinovis bereits seinen Standort in Darmstadt. Der Niedergang des Tiefdrucks hatte begonnen. Gründe gab es viele: Der Onlineversandhandel wuchs, Zeitschriftenauflagen schrumpften, der Rollenoffset übernahm Aufträge aus dem Tiefdruck, bald gab es nicht mehr genug Arbeit, um die vielen Tiefdruckmaschinen dauerhaft auszulasten. Krisenstimmung bei den Tiefdruckunternehmen. Sie beklagten Überkapazitäten und Preisverfall – oft selbst verursacht. Trotz fehlender Auslastungen eröffneten neue Betriebe – ganz vorn Bertelsmann mit einem Werk im englischen Liverpool und im italienischen Treviglio. Neue, breite, leistungsstärkere Maschinen wurden aufgestellt – ganz vorn Prinovis in Nürnberg.

ver.di warb dafür, die überzähligen Druckkapazitäten nach und nach abzubauen. Ohne Entlassungen. Doch genau das Gegenteil geschah: Tiefdruckkonzerne konkurrierten sich gegenseitig nieder, Unternehmen gingen pleite, Werke wurden geschlossen, Menschen verloren ihre Arbeit. In den übriggebliebenen Betrieben wurden Löhne gedrückt, Arbeitszeiten verlängert, Tarifverträge unterlaufen, Leiharbeits- und Werkvertragsbeschäftigte eingesetzt.

Sozialplan auf Vorrat

In Nürnberg ließ sich der Betriebsrat auf Bündnisse mit dem Unternehmen ein. Mit jedem Bündnis musste die Belegschaft etwas hergeben. Sie arbeitete drei Stunden ohne Bezahlung und mit reduzierter Maschinenbesetzung, erhielt nur das halbe Urlaubsgeld und die halbe Jahresleistung. Das war kaum verkraftet, da verlangte Bertelsmann von den drei Standorten Nürnberg, Ahrensburg und Dresden, 20 Millionen Euro einzusparen.

Gut, dass der Gesamtbetriebsrat einen Sozialplan gefordert und mit ver.di bereits 2015 verhandelt hatte, sagt Thomas Scharrer. Auf Vorrat vereinbart für künftige Schließungen. »Müssten wir jetzt verhandeln, wäre das Volumen niedriger.« Jetzt gibt es aus dem Sozialplan und Interessenausgleich Abfindungen, Geld für Qualifizierung und zwölf Monate Unterstützung in einer Transfergesellschaft sowie Prämien. Scharrer nennt sie Durchhalteprämien – fast fünf Monatsgehälter für jeden, der bis zur Schließung bleibt, um die Produktion abzusichern.

Was kannst du?

Allerdings drängte der Betriebsrat die Kolleg*innen schon vor zwei Jahren, als Bertelsmann die Schließung bekanntgab, sich neue Arbeit zu suchen. »So eine lange Zeit verführt dazu, die Neuorientierung rauszuschieben«, sagt Karl-Heinz Leikauf, Mitglied im Betriebsrat und engagiert im Prinovis Transfer Center. Das Transfer Center ist eine Art Stellenbörse und unterstützt Kolleg*innen für zwei Jahre beim Bewerben. Je zwei Mitglieder des Betriebsrats und der Personalabteilung fragten Kolleg*innen: Was kannst du? Was machen Sie? Was hast du für Pläne? Was wollten Sie schon immer mal beruflich machen? Sie schauten, wer auf die Stellenausschreibungen passt oder eine Qualifizierung braucht.

2012, als das Foto entstand, lief die Tiefdruckrotation von Prinovis Nürnberg noch auf Hochtouren. Das ist in wenigen Wochen Geschichte.

Betriebsrat Karl-Heinz Leikauf, 64, hat Glück: Wenn das Werk geschlossen wird, geht der Drucker in Rente. Bis dahin unterstützt er die Kolleg*innen im Prinovis Transfer Center bei der Stellensuche und beim Bewerbungsschreiben.

Foto: Werner Bachmeier

Einige wechselten zu den Nürnberger Verkehrsbetrieben oder zur Deutschen Bahn. Manche bildeten sich zum Fachwirt weiter, mit Zuschüssen aus dem Qualifizierungsbudget. Andere machten Stapler- oder LKW-Führerscheine. Ein Kollege finanzierte über das Budget den Bootsführerschein, um ins Geschäft seines Schwagers im Fränkischen Seenland einzusteigen.

Einige fanden auch Arbeit im Druckhaus der Nürnberger Nachrichten oder bei Burda in Nürnberg, ehemals Sebald. Markus Altmann zum Beispiel. Vier Mal bewarb sich der Drucker, drei Zusagen hatte er in der Tasche und zwar schon Ende 2019. »Manche Kollegen haben mich belächelt, wie ich denn durch einen früheren Ausstieg einen Teil der Abfindung und gutes Geld herschenken könnte.« Seit mehr als einem halben Jahr arbeitet Altmann bei Burda am Nürnberger Hafen: Es ist die gleiche Arbeit, zum Teil die gleichen Aufträge. »Ein Sechser im Lotto.« Das Arbeitsklima sei gut und die Qualität werde großgeschrieben, erzählt der 53-Jährige, der 21 Jahre lang bei Prinovis beschäftigt war.

Überall weniger Lohn

Mehr als 200 Kolleg*innen haben das Unternehmen seit der Bekanntgabe der Schließung vor zwei Jahren verlassen. Sie gingen in Rente, schieden via Freiwilligenprogramm aus oder wechselten zu anderen Firmen, wie die Azubis, die jetzt fast alle in verschiedenen Unternehmen ihre Ausbildung fortsetzen können. »Easy ist das nicht, gerade in Corona-Zeiten«, sagt Betriebsrat Leikauf. Und wer eine neue Stelle gefunden hat, muss mit weniger Lohn auskommen.

Ende Februar waren noch 460 Kolleg*innen bei Prinovis in Nürnberg beschäftigt. Darunter einige Verzweifelte, die eine Bewerbung nach der anderen schreiben.

Am Tag der Arbeit wird Thomas Scharrer erst einmal tief durchatmen. Mit der Aussicht auf vier Monate ohne Krisen, Interessenausgleiche und Sozialpläne. Wenn keine dritte Corona-Welle anrollt, wird er vor dem Wechsel in die Transfergesellschaft seinen Rucksack packen und auf Tour gehen: »Dann haue ich erst mal ab.«

Der Niedergang des Tiefdrucks

Geschlossen wurden
1997: Burda, Darmstadt (600 Beschäftigte)
2008: Prinovis in Darmstadt (fast 300)
2008: Metz, Aachen (40)
2010: Bauer Druck, Köln (knapp 400)
2011: Broschek in Hamburg (200)
2011: Schlott in Freudenstadt (300)
2013: Badenia in Karlsruhe (100)
2014: Prinovis in Itzehoe (750 plus 250*)
2015: Bruckmann, Oberschleißheim (130)
2021: Prinovis in Nürnberg (zuletzt 460)
*Werkvertrags- und Leiharbeitskräfte

Von Maul+Belser zu Prinovis

In guten Zeiten arbeiteten 1.200 Beschäftigte bei Prinovis. Sie produzierten die ADAC Motorwelt, die Computerzeitschrift c’t, das englische Lifstyle-Magazin Glamour, Apothekenhefte und Fernsehbeilagen, den Ikea-, Quelle- und Otto-Katalog und Telefonbücher. Zusammen mit Sebald Druck – inzwischen zu Burda gehörig – verstand sich Nürnberg als Zentrum des europäischen Tiefdrucks. 1975 stieg Bertelsmann bei der Druckerei Maul+Co. ein, fusionierte sie mit seiner Druckerei Belser zu Maul+Belser und investierte in Millionenhöhe. Maul+Belser erwirtschaftete 600 Millionen Euro Jahresumsatz und wurde 2005 zu Prinovis Nürnberg.

Bertelsmann

Nach der Schließung der Standorte Darmstadt, Itzehoe und Nürnberg betreibt Prinovis nur noch Tiefdruckereien in Ahrensburg, Dresden (tariflos) und im englischen Liverpool. Prinovis gehört zur Bertelsmann Printing Group, in der die Druckaktivitäten des Konzerns zusammengefasst sind, etwa Mohn Media und Vogel Druck. Bis 2015 zählten noch Springer und Gruner+Jahr zu den Gesellschaftern von Prinovis, inzwischen ist Bertelsmann alleiniger Eigentümer.