Prekäre Arbeit

Zwölf Euro sind nicht genug

Erst kürzlich ist der gesetzliche Mindestlohn auf zwölf Euro erhöht worden. Warum er dennoch nicht reicht, erklärt Nicole Mayer-Ahuja, Professorin für Soziologie an der Georg-August-Universität Göttingen. Und warum eine Arbeit prekär ist, obwohl nach tariflichem Stundenlohn bezahlt wird. Die Professorin hat mit Oliver Nachtwey das Buch »Verkannte Leistungsträger:innen« herausgegeben.

DRUCK+PAPIER: Ist Arbeit auf Abruf prekäre Arbeit?

Nicole Mayer-Ahuja: Ja, in dem beschriebenen Fall handelt es sich um prekäre Arbeit. Die Einlegerin wird zwar nach Tarif bezahlt, verfügt aber über ein so geringes Stundenkontingent, dass sie davon ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten kann und auf einen Zweitjob angewiesen ist. In ihrem Vertrag ist keine Stundenzahl festgelegt. Diese sogenannten Null-Stunden-Verträge kennen wir nur aus Großbritannien. In Deutschland verhindert das Teilzeit- und Befristungsgesetz, dass Unternehmen die Menschen ausschließlich nach Arbeitsanfall einsetzen. Ein Merkmal prekärer Arbeit ist auch, keine nennenswerten Summen für Notfälle zurücklegen zu können. Und immer in der Unsicherheit zu leben, dass die Stunden weiter reduziert werden und man womöglich den Job verliert. Was bei der Einlegerin erschwerend hinzukommt, ist die Tatsache, dass sie an zwei von drei Tagen nicht das Ende ihres Arbeitstages kennt. Wer die eigene Arbeitskraft verkaufen muss, ist nie völlig frei. Aber welches Maß an Freiheit man hat, hängt davon ab, ob der Arbeitstag klare Grenzen hat. Das ist bei ihr deutlich in Richtung Unfreiheit verschoben. 

Nicole Mayer-Ahuja ist Professorin für Soziologie an der Georg-August-Universität Göttingen.
Foto: Klaus Peter Wittemann

Menschen in prekären Jobs kommen im Erwerbsleben schwer über die Runden. Aber was ist im Alter? 

Das Versprechen, im Alter von seiner Rente leben zu können, nachdem man sein Erwerbsleben lang gearbeitet hat, ist für viele Menschen nicht mehr gültig. Besonders wer in prekären Jobs feststeckt, fällt im Alter in die Grundsicherung. Eine private Rente zu finanzieren, ist mit Niedriglöhnen nicht möglich. Kaum anders verhält es sich bei Arbeitslosigkeit. Menschen zahlen ihr Erwerbsleben lang in die Arbeitslosenversicherung. Doch verlieren sie tatsächlich ihre Arbeit, erhalten sie nur ein Jahr Arbeitslosengeld; das ist schon nicht viel, wenn die Beiträge aus einer Teilzeitstelle gezahlt werden. Danach rutscht man in Hartz IV, demnächst vermutlich Bürgergeld. Man bringt sein Leben lang Leistung, ist aber im Fall von Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter nur dürftig abgesichert. Die sozialen Sicherungssysteme sind seit Jahren geschwächt worden.

Was muss sich ändern?

Die gesetzliche Rentenversicherung sollte in eine Erwerbstätigenversicherung umgewandelt werden, in die alle Berufsgruppen einzahlen, auch die Gutverdienenden, die freien Berufe, die Beamten und Beamtinnen. Das heißt auch: Minijobs werden abgeschafft. Zudem muss sich der Mindestlohn deutlich erhöhen. Die zwölf Euro sind laut OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) nicht genug für ein Living Wage. Das ist definiert als der Existenzlohn, der nicht nur das reine Überleben, sondern auch soziale und kulturelle Teilhabe sichert. Außerdem brauchen wir eine kurze Vollzeit für möglichst alle: weniger Arbeitszeit für Menschen, die 40 Stunden und mehr arbeiten, aber mehr Arbeitszeit für jene, die mit dem Verdienst aus der geringen Stundenzahl ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten können. Damit kurze Vollzeit zur neuen Normalarbeitszeit werden kann, müssen aber auch die sozialen Sicherungssysteme angepasst werden: Wer ein Leben lang 25 oder 30 Stunden pro Woche arbeitet, müsste zum Beispiel Anspruch auf eine existenzsichernde Regelaltersrente haben.

Zum Lesen

Nicole Mayer-Ahuja und OliverNachtwey: Verkannte Leistungsträger:innen.
Berichte aus 
der Klassengesellschaft.
Edition Suhrkamp, 2021, Berlin,
567 Seiten, 22 Euro.

Die Gesellschaft ist gespalten. In diejenigen, die über viel Geld, Einfluss und Macht verfügen, und die anderen, die für ihre Arbeit wenig Geld, Anerkennung und Sicherheit bekommen. Um sie geht es in unserer Serie.
Das Interview aus dem ersten Teil der Serie ist hier zu lesen, aus dem zweiten Teil hier und dem dritten Teil  hier.