Prekäre Arbeit

Zehn Euro am Tag

Als Verlagsangestellte bei Madsack-Tochterfirma: Niedriglohn trotz Vollzeit, Geringschätzung trotz Personalnot

Die junge Frau steht in der Umkleidekabine vor dem Spiegel, dreht den Kopf über die Schulter, um zu sehen, ob das Oberteil auch hinten nach was aussieht. Sie überlegt lange, dann zieht sie ihre alte Bluse wieder an und hängt das Oberteil zurück an die Stange. Sophia Meister, 22, hat seit drei Jahren ihre Ausbildung zur Kauffrau für Büromanagement abgeschlossen und arbeitet in einem renommierten Verlag.

Ich bräuchte neue Schuhe. Aber sofort denke ich: Brauche ich wirklich neue? Ziehe ich die in einem Jahr noch an? Halten sie solange durch? Ich bin von zu Hause aus zur Sparsamkeit erzogen worden. Leitungswasser zum Trinken reicht, es muss nicht Saft sein. Das ist doch in Ordnung, sage ich mir. Aber manchmal denke ich: Nein, es ist nicht in Ordnung, dass ich so sehr aufs Geld achten muss. Abends kann ich nicht gut abschalten, weil ich mir Sorgen mache. Ich lebe in einer kleinen Wohnung in einem Dorf im Osten. Die Miete dort kann ich bezahlen. Aber erst neulich wurde die Heizung von Öl auf Gas umgestellt. Wie soll das alles werden? Zur Arbeit muss ich mit dem Auto pendeln, mit den Öffentlichen wäre ich zu lange unterwegs. Ich kann es mir aber nicht leisten, jeden Tag ins Büro zu fahren. Das versteht dort niemand.

Sophia Meister ist nicht ihr richtiger Name. Auch ihren Wohnort nennt sie nicht. Sie fürchtet, im Betrieb Schwierigkeiten zu bekommen, falls sie jemand erkennt. Die Kauffrau für Büromanagement erhält 1.750 Euro. Brutto, sagt sie gleich hinterher. Weil manche denken, das sei die Summe, die auf ihr Konto überwiesen wird. So ist es nicht. Von dem Bruttogehalt gehen knapp 100 Euro Steuern und 350 Euro für Kranken-, Renten-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung ab. Von den 1.300 Euro netto zahlt sie Miete, Lehrgangsgebühren und Benzinkosten. Bleiben 300 Euro. Zehn Euro am Tag.

Sophia arbeitet bei einer Tochterfirma der Verlagsgruppe Madsack, dem fünftgrößten Zeitungsverlag in Deutschland. Madsack ist bekannt dafür, das Unternehmen in viele kleine Einheiten zu zerstückeln, immer öfter ohne Tarif. In dem Betrieb, in dem Sophia arbeitet, galt einst ein Tarifvertrag. Die Gehälter sind eingefroren, Tariferhöhungen gibt es nicht. Allenfalls mal ein bisschen mehr Geld, wenn Madsack das so will. Von der jüngsten Erhöhung kann sich Sophia nun im Monat fünf Liter Benzin leisten. Wäre Sophia richtig eingruppiert und gälte eine tarifliche Gehaltstabelle wie für Angestellte in Zeitungsverlagen in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern, bekäme sie rund 600 Euro brutto mehr.

Größte Gesellschafterin von Madsack ist mit 23 Prozent die SPD über ihr Medienunternehmen. Die Partei hat sich wie die Gewerkschaften besonders für einen höheren gesetzlichen Mindestlohn starkgemacht. Der steigt ab Oktober auf zwölf Euro. So viel erhält Sophia heute noch nicht.

Ich bin froh, dass mein Freund gut verdient. Von seinem Trinkgeld leisten wir uns manchmal, ins Restaurant zu gehen. Ein Urlaub ist aber nicht drin. Er hat mir schon angeboten, meinen Anteil zu finanzieren. Aber das wäre mir unangenehm. Ich würde mich abhängig fühlen, als läge ich jemandem auf der Tasche. Nein, das fühlt sich nicht gut an. Lieber schränke ich mich ein und mache eben nur Urlaub bei meinen Großeltern, auch wenn ich dort alles kenne. Ich würde schon gern etwas von der Welt sehen.

Etliche Kolleg*innen von Madsack-Tochterfirmen haben gekündigt, weil sie nach der Ausbildung nur befristet beschäftigt wurden, wenig verdienten und der Arbeitsdruck hoch war. Denn dem Verlag und seinen ausgelagerten Betrieben fehlt Personal. Gesucht werden Fachleute für den Verkauf, fürs Personalwesen, Mediengestalter*innen, Kaufleute. Sophia bildet sich jetzt neben ihrem Vollzeitjob weiter. Sie lernt abends und hört beim Kochen Vorlesungen. Sie hofft, mit dem Abschluss eine besser bezahlte Arbeit zu bekommen.

Am meisten empört mich diese Geringschätzung – finanziell, weil ich mit so wenig Geld abgespeist werde, aber auch die fehlende Wertschätzung für meine Arbeit. Ich soll am besten rund um die Uhr zur Verfügung stehen. Ich hatte mir wegen einer Beerdigung einen Tag aus meinen Mehrarbeitsstunden freigenommen. Dann erhalte ich eine Nachricht, ob ich nicht nach der Trauerfeier noch arbeiten könne. Mein Chef ruft auch mal abends an, wenn er eine Information braucht. Je mehr ich schaffe, desto mehr wird mir aufgebrummt.

Es gehört zu meinem Job, viel selbstständig zu erledigen, ohne dass mir jemand sagt, was ich zu tun habe. Aber statt einem netten Feedback kommt dann: »Sophia, die Zahlen sind nicht so prickelnd. Da musst du bis Jahresende noch was draufsatteln.« Die Zielzahlen kommen aus Hannover, dem Sitz von Madsack. Dem Unternehmen ist es auch egal, ob ich die Arbeit, für die woanders ein Team mit fünf Leuten zuständig ist, allein stemmen muss. Dabei mache ich die Arbeit gern. Wie viel Gehalt ich für angemessen hielte? 2.000 Euro netto, das wär’s. Vielleicht würde am Ende des Monats sogar noch was übrig bleiben.

Die Gesellschaft ist gespalten. In diejenigen, die über viel Geld, Einfluss und Macht verfügen, und die anderen, die für viel Arbeit wenig Geld, Anerkennung und Sicherheit bekommen. Um sie geht es in unserer Serie.
Der erste Teil: t1p.de/prek-arbeit1
Der zweite Teil: t1p.de/prek-arbeit2

Die Billigen oder die ganz Billigen?