Nur weil Fachkräfte fehlen, steigen nicht automatisch die Löhne
Es sind nicht allein Minijobber*innen, Leiharbeitskräfte und Teilzeitbeschäftigte, die schwer über die Runden kommen. Prekäre Arbeit breitet sich auch in Kernbelegschaften und Normalarbeitsverhältnissen aus. Fragen an die Soziologieprofessorin Nicole Mayer-Ahuja.
DRUCK+PAPIER: Die junge Verlagsangestellte ist gut ausgebildet und bekommt Niedriglohn. Was läuft da schief?
Mayer-Ahuja: Es gibt keinen Automatismus, wonach eine qualifizierte Tätigkeit auch gut entlohnt wird. Umgekehrt ist eine schlechte Entlohnung auch kein Hinweis auf eine niedrige Qualifikation. Das beweisen die sogenannten ungelernten Kräfte, denen es oft nur mit viel Routine, Erfahrung und besonderen Kenntnissen gelingt, ihr Arbeitspensum zu schaffen. Andersherum deutet ein exorbitant großes Einkommen wie das von Unternehmern*innen, Manager*innen und Berater*innen nicht auf eine besonders hohe Qualifikation oder eine besonders nützliche Tätigkeit hin. Dass sie in unserer Gesellschaft als Leistungsträger*innen gelten, ist Ergebnis einer politisch gewollten Umdeutung des Leistungsbegriffs in der Zeit unter Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) Anfang der 1980er-Jahre.
In Deutschland fehlen eine halbe Million Fachkräfte. Nach der kapitalistischen Logik, wonach bei knappem Angebot die Preise anziehen, müssten doch jetzt die Löhne steigen. Warum passiert das nicht?
Nicole Mayer-Ahuja ist Professorin für Soziologie an der Georg-August-Universität Göttingen.
Foto: Klaus Peter Wittemann
Diese Logik gilt für den Arbeitsmarkt nur eingeschränkt. Weil sich hier zwei ungleiche Partner gegenüberstehen – ein einzelner Mensch und ein Unternehmen. Wie ungleich das Machtverhältnis ist, zeigt sich am Reinigungsgewerbe. Dort fehlen seit Jahrzehnten Reinigungskräfte. Ist dadurch der Lohn gestiegen? Keineswegs. Die Reinigungsfirmen argumentieren, dass sie ihre Lohnkosten niedrig halten müssten, weil sie sonst bei der Auftragsvergabe leer ausgingen. Tatsächlich bekommt meist der billigste Anbieter den Zuschlag – auch von öffentlichen Auftraggebern. Aber Reinigungsfirmen beschäftigen auch vor allem Minijobber*innen, um größtmöglichen Gewinn zu erzielen.
Das klingt nach wenig Hoffnung.
Ein anderes Beispiel: Eine Universitätsklinik, die mit Sparauflagen im Rahmen der staatlichen Krankenhausfinanzierung konfrontiert ist, hatte Reinigung, Kantine, Wäscherei, Bettentransport in eine tariflose Tochterfirma ausgelagert, um Kosten zu senken. Neue Beschäftigte verdienten nur noch die Hälfte und mussten teilweise mit staatlichen Sozialleistungen aufstocken. Dann formierte sich Widerstand. Die Belegschaft wählte einen Betriebsrat, organisierte sich in der Gewerkschaft und streikte für einen Haustarifvertrag – mit Erfolg. Es gibt keine befristeten Arbeitsverhältnisse mehr und bezahlt wird deutlich über dem Mindestlohn. Daran zeigt sich, dass Arbeitskräftemangel nicht von selbst zu höheren Löhnen führt. Es führt kein Weg daran vorbei, dass sich Menschen in der Gewerkschaft organisieren und gegen die Verhältnisse wehren – in diesem Fall auch dagegen, dass Gesundheit zur Ware gemacht wird.
Zum Lesen
Nicole Mayer-Ahuja und Oliver Nachtwey:
Verkannte Leistungsträger:innen.
Berichte aus der Klassengesellschaft.
Edition Suhrkamp 2021, Berlin, 567 Seiten, 22 Euro.
Zehn Euro am Tag
Als Verlagsangestellte bei Madsack-Tochterfirma: Niedriglohn trotz Vollzeit, Geringschätzung trotz Personalnot