Arbeit

Nur noch »Kostenfaktor«

Lästig und teuer. So fühlen sich viele Beschäftigte von ihren Arbeitgebern behandelt. Das ist oft das Ergebnis von Gefährdungsbeurteilungen. 
Damit lässt sich herausfinden, was los ist im Betrieb. Warum der Kranken
stand steigt und die Stimmung sinkt. Was Beschäftigte belastet und was 
sie krank macht.

14.00 Uhr. Feierabend für die Frühschicht bei Bischof und Klein in Lengerich. Rund anderthalb Dutzend Beschäftigte bleiben heute länger. Sie machen keine Überstunden, bekommen die Mehrarbeit aber bezahlt. Einer nach dem anderen verschwindet im Besprechungsraum. Tür zu. Mit dabei sind die Fachkraft für Arbeitssicherheit und der Betriebsratsvorsitzende Uwe Dohe. Wichtigstes Arbeitsmittel: ein elfseitiger Fragebogen.

Eine Stunde lang geht es um Arbeitsbedingungen. Muss man Arbeit unter Zeitdruck ausführen; wird man oft unterbrochen; braucht man für seine Arbeit neue Qualifikationen und kann man die auch lernen; gibt es bei Problemen Unterstützung? Immer wieder haken die Fachkraft und Uwe Dohe nach: »Sag’s mal konkreter. Wie meinen Sie das genau? Hast du eine Idee, wie es besser ginge?«

»Da ist wieder einiges auf den Tisch gekommen«, sagt Uwe Dohe. Er gehört zu einem von drei Teams, die für die Befragung geschult wurden. Die Teams werten die Antworten der Freiwilligen aus, stellen die Ergebnisse aus den Befragungen aller Schichten dem Vorgesetzten der Abteilung vor und machen erste Vorschläge. Beim nächsten Treffen präsentiert der Vorgesetzte seine Ideen, wie die Arbeitsbedingungen verbessert werden können.

 

Experten in eigener Sache

Was beim Verpackungshersteller Bischof und Klein gerade geschieht, ist die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen. Dabei geht es darum, Arbeitsbedingungen systematisch unter die Lupe zu nehmen: Was kann krank machen? Wo stecken Risiken? Das lässt sich gut herausfinden, indem die Beschäftigten befragt werden. Denn sie wissen am besten, warum Nacken und Schultern nach der Arbeit schmerzen oder warum eine Arbeit nicht rechtzeitig beendet werden konnte.

Wie die Gefährdungen ermittelt werden, lässt das Arbeitsschutzgesetz offen. Aber dass der Arbeitgeber sie ermitteln muss, ist im Gesetz vorgeschrieben – und zwar in jedem Betrieb. Dann sollen Maßnahmen formuliert, umgesetzt und die gesamte Prozedur regelmäßig wiederholt werden. Ziel ist es, den Arbeitsschutz stetig zu verbessern und Arbeitsunfälle, Berufskrankheiten und arbeitsbedingte Erkrankungen zu vermeiden.

So weit die Theorie. Doch nur jeder fünfte Betrieb in Deutschland analysiert die psychischen Belastungen. Noch weniger verbessern daraufhin tatsächlich die Arbeitsbedingungen. Obwohl das Stressniveau der Beschäftigten seit Jahren hoch ist, wie der Stressreport der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) von 2012 feststellte. Fast sechs von zehn Befragten hatten beklagt, gleichzeitig verschiedene Aufgaben erledigen zu müssen. Und der Hälfte machten Termin- und Leistungsdruck zu schaffen.

Oft kommt die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung erst durch Drängen des Betriebsrats auf den Weg. Wie bei Bischof und Klein im westfälischen Lengerich. Ein Jahr lang hat der Betriebsrat immer wieder angeschubst und nachgehakt, bis der Arbeitgeber einlenkte und über die Betriebsvereinbarung verhandelt werden konnte.

Inzwischen ist die Hälfte der rund 1.300 Beschäftigten befragt. Was ihnen am meisten aufstößt, ist mangelnde Wertschätzung. »Das Gefühl, selten oder nie eine positive Rückmeldung zu erhalten und immer nur das Negative vorgehalten zu bekommen, ist häufig genannt worden«, sagt Dohe.

Damit steht die Belegschaft von Bischof und Klein nicht allein da. Es sind zwar wenige Betriebe aus Druckindustrie, Verlagen und Papierverarbeitung, die psychische Belastungen ermitteln. Aber überall, wo das passiert, kritisieren Beschäftigte vor allem das inkompetente Führungsverhalten von Vorgesetzten und die fehlende Wertschätzung. »Man ist nur noch Kostenfaktor« – das ist oft zu hören.

 

Mehr Leute eingestellt

Bei MM Graphia in Bielefeld ist die Gefährdungsbeurteilung abgeschlossen, die ersten Verbesserungen greifen. »Manchmal sind es nur Kleinigkeiten, die verändert werden müssen«, sagt Betriebsratsvorsitzender Burkhard Winterhoff. Weil der Belegschaft der Zusammenhalt fehlte, wurde ein großes Betriebsfest mit Familien organisiert. Gegen die fehlende Information im Betrieb sollen die Nachrichten im Firmenfernsehsender helfen. Dort kann man Stellenausschreibungen, Fußballergebnisse, Wetterberichte und Termine für die Betriebsversammlung lesen.

Manches verursacht auch Stress und keiner weiß es. Ein Beispiel: Früher mussten die Staplerfahrer plötzlich ihre Arbeit unterbrechen und beim Umrüsten an der Maschine helfen, heute zeigt ihnen eine gelbe Ampel an der Maschine, dass sie noch 30 Minuten Zeit haben, um ihre Arbeit zu beenden, bevor sie gebraucht werden.

Die Gefährdungsbeurteilung fördert allerdings auch große Probleme zutage. Viele Beschäftigte hatten sich über den dauernden Wechsel der Leiharbeiter/innen und den Aufwand für die ständigen Arbeitseinweisungen beklagt. Daraufhin wurden zwölf Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter fest übernommen. Auch die Arbeitsvorbereitung bekommt mehr Leute zugewiesen und der Nachtschicht stehen künftig ein Elektriker und ein Schlosser zur Seite.

Eine Gefährdungsbeurteilung macht viel Arbeit, lautet das Fazit der beiden Betriebsratsvorsitzenden Burkhard Winterhoff und Uwe Dohe. Aber es lohnt sich.

 

Erfahrungen von Betriebsräten 
der Kieler Nachrichten, des 
Weser Kuriers und bei Huhtamaki 
mit Gefährdungs­beurteilungen: www.verdi-drupa.de/2016/11/14/gefaehrdungsbeurteilung/