Wählerphobie

Der moderne Bundestagsabgeordnete muss, zumindest als Mitglied der Koalitionsparteien, über eine Eigenschaft verfügen, die ihn früher berufsunfähig gemacht hätte: eine gespaltene Persönlichkeit. Sozialdemokrat sein und trotzdem Lars Klingbeil gut finden. Noch schwerer: Bundeskanzler Merz unterstützen. Oder Christdemokrat sein, aber dennoch Jens Spahn als Fraktionsvorsitzenden haben. Und Alexander Dobrindt als Innenminister – beides Männer, die längst bewiesen haben, dass sie für öffentliche Ämter ungeeignet sind. Oder: sparen und gleichzeitig Schulden machen. Für Friedensdiplomatie eintreten und zugleich für Aufrüstung. Also auch für die Wehrpflicht sein und dagegen.
Die Wahrheit gleichzeitig sagen und sie verschleiern. Kurz: gute Miene zum bösen Spiel machen. Das kann nach menschlichem Ermessen nicht lange gut gehen: Entweder zerbricht die Koalition und wir haben Ende des Jahres schon wieder Neuwahlen. Oder viele Abgeordnete kriegen Anschlusserkrankungen. Sitzt eine Bundestagsabgeordnete beim Psychotherapeuten: »Ich leide unter einer Wählerphobie.« Therapeut: »Wie äußert sich das?« »Immer, wenn ich in meinen Wahlkreis komme, erleide ich Panikattacken, Schweißausbrüche und mache Versprechungen.« »Was für Versprechungen?« »Leere.« »Zum Beispiel?« »Ich sage allen, was sie hören wollen. Unternehmern verspreche ich niedrigere Löhne. Arbeitnehmern verspreche ich höhere Löhne. Beiden niedrigere Steuern. Und allen immer sowieso: Freibier! In letzter Zeit wird es immer schlimmer.« »Noch schlimmer?« »Immer häufiger sind’s auch fette Lügen. Eine Steuersenkungslüge hier, ’ne Rentenerhöhungslüge da. Was soll ich bloß machen?« »Gehen Sie in die Geschlossene. Da treffen Sie auf Leute mit ähnlichen Leiden.« »Bin ich doch schon: Wir nennen es: Fraktion.«
Robert Griess