Porträt

Eine Flamme am Brennen halten

Wolfgang Blumenthal – der einzig Richtige fürs Katalogisieren und Sortieren der Historischen Bibliothek im Karl-Richter-Verein | Der Bücherfreund hebt verborgene Schätze | Mit Ausdauer gegen die Geschichtsvergessenheit

»Guckt mal auf Seite 56! Wenn unten der 30. September steht, habt Ihr die korrigierte Variante.« Wolfgang Blumenthal hat frische Ausdrucke mitgebracht. Für die gesammelten Tarifverträge der grafischen Berufe aus vielen Jahrzehnten stimmt jetzt die Reihenfolge exakt. Das Abkürzungsverzeichnis hat er auch vervollständigt. Später zeigt er den Mitstreiter*innen am Regalfach, wo er Materialien neu einsortiert hat. Der Mann hat eine klare Struktur – nicht nur im Kopf.

Seit Monaten treffen sich Enthusiasten des Karl-Richter-Vereins im Berliner Haus der Buchdrucker in der Dudenstraße, um Ordnung im Bestand der Historischen Bibliothek zu schaffen. »Ohne Wolfgang wären wir aufgeschmissen«, sagt Constanze Lindemann, die von Anfang an dabei ist. Die Bibliothek war Sorgenkind. Nur Insider wussten, welche Schätze hier lagern. Kein Außenstehender hätte sich zurechtgefunden.

Mit Herzblut dabei

Ein wenig scheint es noch so. Das Vereinsdomizil ist mit Büchern, Mappen, Papieren, Bildern, Büsten und Möbeln vollgestopft. Wieder gibt es Stapel mit Neuzugängen. Die packt Blumenthal aber nicht mehr an. Er kümmert sich um alles, was schon in Regalen steht und in Archivkästen liegt. Das soll bis zum Jahresende so aufgearbeitet sein, dass es sofort gefunden, aber auch im Internet eingesehen werden kann. »Danach müssen andere ran.« Der hochgewachsene Mann, der auf seinem Tritt zielsicher bis ins oberste Regalfach reicht, Worte aber oft bedächtig wählt, ist im Mai 88 geworden.

v.l.: Constanze Lindemann, Iris Pilarek, Jan Schulze-Husmann (r.) und mittendrin Wolfgang Blumenthal

Noch ist er Herr über die Zeugnisse der hiesigen Geschichte der Buchdrucker und ihrer Gewerkschaften. Jan Schulze-Husmann von der ver.di-Bundesverwaltung und dem Vereinsvorstand ist immer wieder fasziniert von Blumenthals bibliografischem Gedächtnis und seinem historischen Wissen. Mehr noch: »Er ist mit Herzblut dabei.« Iris Pilarek, die die Webseite gestaltet, nimmt‘s nüchterner. Sie verarbeitet die Word-Dateien, die Blumenthal zuliefert. »Die schreibt immer seine Frau.« Neulich musste sie ja doch lachen. »Wenn er gewusst hätte, dass er mal so alt wird, hätte er sich eher mit Computern beschäftigt, sagte mir Wolfgang. Nun lohne das nicht mehr.«

Aber sich mit Herzblut Gewerkschaftsgeschichte verschreiben, Dokumente und Bücher bewerten und erfassen, Ordnung im Archiv schaffen, den Bestand dokumentieren – das muss man können und wollen. Für Wolfgang Blumenthal gilt beides. Ein Bücherfreund war er schon als Kind. Über eine Buchgemeinschaft, in der sein Vater Mitglied war, kam Neues ins Haus. Als Schüler ging er seinem Deutschlehrer in der Volksbücherei des Heimatdorfes im Kreis Wernigerode in Sachsen-Anhalt zur Hand. Sein Ziel, wissenschaftlicher Bibliothekar zu werden, hätte die Liebe zu Büchern und Ordnung vereint. Doch während seines Studiums in Leipzig wurde die Bibliotheksausbildung nach Berlin verlegt, Blumenthal durfte nicht wechseln. Als er sein Staatsexamen in Philosophie gemacht hatte, zog er in die Hauptstadt und arbeitete als Lektor beim Deutschen Verlag der Wissenschaften. Lange Jahre war er in der Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL), wohin sich die Beschäftigten in der DDR bei gewerkschaftlichen Fragen wenden konnten, kam ins Beratergremium der BGL-Vorsitzenden der volkseigenen Verlage und wurde zum Mitglied des Zentralvorstandes der IG Druck und Papier der DDR gewählt. Dort arbeitete er noch, als die gemeinsame Feier der Industriegewerkschaften Ost und West zum 125. Jahrestag des Verbandes der Buchdrucker 1991 vorbereitet wurde. Ende der 1980er-Jahre habe er sich erstmals ernsthaft mit der Historie der Gewerkschaften des Druck- und grafischen Gewerbes befasst, erzählt er. Blumenthal recherchierte, lernte Experten kennen. »Es tat sich mir ein ganz neues Feld auf.« Die unterschiedlichen Vorstellungen in Ost und West, wie die Gründung des Buchdruckerverbandes zu würdigen sei, mussten nicht mehr ausdiskutiert werden. Die Ereignisse 1989 überholten sie. Es gab nur einen Jubiläumsband. Und für den steuerte Blumenthal Beiträge zur IG Druck und Papier im Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) bei.

Fundus an Gewerkschaftswissen

Seither hat ihn Gewerkschaftsgeschichte nicht mehr losgelassen. Zunächst war DDR-Archivmaterial in die Bestände der IG Medien zu überführen. Dafür war er sogar für einige Monate fest angestellt. Letztlich landeten die Materialien im Bundesarchiv der Bundesrepublik. »Damit gearbeitet wird aber nicht. Das ist sehr schade«, findet Blumenthal. Überhaupt werde in unserer schnelllebigen Zeit zu wenig aus dem Wissen und der Erfahrung der Vorgänger geschöpft. Geschichtsvergessenheit sei nie gut. Ein Beispiel: Wissen Bewohner*innen der Neuköllner Hufeisensiedlung, wie ihre von architektonischem Fortschritt zeugenden Wohnungen und viele Gewerkschaftshäuser zwischen 1900 und 1933 erbaut wurden? »Mit den Groschen der Mitglieder.« So heißt auch der von Blumenthal initiierte und 2004 erschienene gewerkschaftshistorische Stadtführer.

Im Seitenflügel eines solchen Hauses – bis 2001 beherbergte es die Mediengewerkschaft Berlin-Brandenburg – sitzt noch immer der Karl-Richter-Verein. Hierher gelangte alles an Büchern und Dokumenten, was bei ver.di-Gründung nicht gebraucht wurde. »Frühe Bände von der Büchergilde Gutenberg sind dabei, die die Nazizeit in Verstecken überdauert haben.« Oder Titel des »Werkkreis Literatur der Arbeitswelt« aus den 1970er-Jahren. Für Blumenthal gehören sie zu den besonderen Schätzen der Bibliothek. Viel Literatur steht hier auch zur technischen Entwicklung des Buchdrucks seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. »Die gewerkschaftlichen Buchdrucker kümmerten sich immer um qualifizierten Nachwuchs.« So wurde der Jungbuchdrucker herausgegeben, eine Zeitung eigens für junge Facharbeiter. Protokolle der Generalversammlungen des Buchdruckerverbandes, Jahresberichte des Hilfsarbeiterverbandes bis Anfang der 1930er-Jahre gibt es, auch Broschüren und Flugblätter aus Gewerkschaftskämpfen der letzten 100 Jahre. Und seit 2005 den kompletten Nachlass des Bibliotheks-Namenspatrons Karl Richter.

Um all das zu gliedern und zu katalogisieren, war Wolfgang Blumenthal der einzig Richtige. Ab 2017 begann er, alle etwa 3.000 Objekte in ein neues Bestandverzeichnis einzuordnen. »Es gab Vorarbeiten. Doch die Kollegen hatten sich oft nur die Titel angesehen. Mitunter verbarg sich dahinter anderer Inhalt.« Niemand hatte bisher überlegt, ob ein Buch, das der Abteilung A zur allgemeinen Gewerkschaftsgeschichte zuzuordnen ist, nicht auch etwas zu Kultur und Bildung unter D enthält. Solche Querverweise gibt es erst bei Blumenthal, der jedes Stück in die Hand genommen und angesehen hat.

Bald alles digital

Seit seiner Kindheit ein Bücherfreund, seit 70 Jahren Gewerkschaftsmitglied

Nun geht‘s auf die Zielgerade. Getüftelt wird, wie das Bibliotheksverzeichnis ins Netz gestellt werden kann. »Wir wollen zeigen, was wir alles haben«, erklärt Jan Schulze- Husmann. Damit sich die Gliederung auffächern lässt »wie ein Akkordeon«, macht die Gestalterin Vorschläge. Und Wolfgang Blumenthal hofft, dass sich ver.di-Geschichtsarbeitskreise oder historisch Interessierte informieren und vernetzen, wenn alles digital vorliegt. »Traditionen bewahren heißt nicht Asche aufheben, sondern eine Flamme brennend erhalten!« Diesen Ausspruch des französischen Sozialisten und Pazifisten Jean Jaures hat die IG Medien neben Innungswappen der grafischen Berufe einst auf Zinnteller prägen lassen. Einen soll Wolfgang Blumenthal bekommen. Für Herzblut, Ordnungssinn und Bücherliebe.

Karl-Richter-Verein

Der Karl-Richter-Verein zur Erforschung der Geschichte und der kulturellen Traditionen der Buchdrucker wurde im Oktober 2000 gegründet. Verein und Historische Bibliothek haben ihren Sitz im ver.di-eigenen Haus der Buchdrucker in Berlin-Kreuzberg. Es wurde 1924 bis 1926 nach Entwürfen von Max Taut und Kollegen erbaut. Das Verbandshaus vereint Büros und Wohnungen. Es wurde 1933 von den Nazis besetzt. Heute sind die Räume überwiegend vermietet.