»Das sind doch keine Rennpferde!«
Eine Zustellerin legt sich mit der Nordsee-Zeitung an: Birgit Hanke macht es zornig, wie der Bremerhavener Verlag mit den Zeitungsbot*innen umgeht
Mikro in der rechten, die linke Hand zittert ein wenig. Die legt sie fest auf ihr Manuskript, dann fliegen die beiden Blätter auch nicht weg. »Hallo, ich bin Birgit. Ich bin hier, weil ich was zu sagen habe.« Birgit Hanke erzählt von der 74-jährigen Zustellerin, die neulich im Betriebsratsbüro anrief. Herzkrank, alleinstehend. Ob sie bei den Kündigungen dabei sei. Was soll sie ihr sagen? Ihren Arbeitsplatz wird sie nicht verlieren. Aber die Hälfte ihres Einkommens.
Wegen der alten Frau steht Birgit Hanke heute am Rednerpult. Wegen Hermann, der sich etwas zuverdienen muss zu seinen 700 Euro Rente und die Touren nur mit Morphium durchhält, so krank wie er ist. Wegen der Witwe, die allein vier Kinder großgezogen hat und nicht wüsste, wie es weitergehen soll ohne den Zustelljob.
Die Kappe tief ins Gesicht gezogen, eine gelbe Weste über ihrer bunten Bluse. Überall steht ver.di drauf. Aus gutem Grund. An allen Arbeitstagen des Jahres ist Birgit Hanke freigestellte Betriebsratsvorsitzende der Zusteller*innen der Nordsee-Zeitung und zu vertrauensvoller Zusammenarbeit mit dem Arbeitgeber verpflichtet. So will es das Betriebsverfassungsgesetz. Aber heute beim ver.di-Aktionstag im kleinen Park an der Hafenstraße direkt neben dem Verlagsgebäude ist sie Gewerkschaftsvertreterin und vor Maßregelungen ihres Chefs geschützt.
Drohen und einschüchtern
Dennoch wird der Betriebsleiter drei Tage später beim Monatsgespräch mit dem Betriebsrat Unterlassungsklagen ankündigen und sie als Drahtzieherin bezichtigen. Auf der Straßenseite gegenüber hatte er seinen Personalleiter platziert, der die Reden beim Aktionstag mitschneiden und Fotos von den Teilnehmenden machen sollte. Warum er denn nicht rübergekommen sei und mit ihnen geredet habe, fragt ihn Ewa Socha beim Monatsgespräch. Ewa Socha ist die Vize-Vorsitzende des Betriebsrats-Duos. Doch das Reden und Verhandeln ist längst dem Drohen und Einschüchtern gewichen. Seit einiger Zeit verwendet der Verlag viel Geld und Zeit darauf, mittels Geoinformationssystem die Vorgabezeiten zu deckeln und damit die Löhne der Zusteller*innen zu drücken. Das geht so: Bezirke werden neu vermessen, im Marketingsprech heißt das Optimierung; das System legt die Reihenfolge der zu verteilenden Zeitungen fest und spuckt Soll-Arbeitszeiten aus – je nachdem, welche Durchschnittsgeschwindigkeit zu Fuß, mit dem Rad oder dem Auto zuvor eingegeben wurde. Die seien oft nicht zu schaffen, sagt Birgit Hanke. Erst neulich ist sie mit Ewa Socha einen Bezirk abgelaufen, ganz ohne Zeitungen, nur zum Test. Die beiden erfahrenen Zustellerinnen haben die vorgegebene Zeit überschritten.
»Ich bin immer noch auf der Suche nach einem Geschäftsführer, gern auch dem Präsidenten des Bundesverbands der Zeitungsverleger (derzeit gerade Herr Ditzen-Blanke, Verleger der Nordsee-Zeitung), der mir demonstriert, wie er mit einer prall gefüllten Umhängetasche über der Schulter oder einem Zeitungskarren im Schlepptau mit fünf Kilometern in der Stunde unterwegs ist«, sagt Thomas Meyer-Fries, Betriebsratsberater für ver.di, in seiner Rede im kleinen Park an der Hafenstraße. Dabei wäre es so einfach mit der Erfassung der Arbeitszeit: »Ein Blick auf die Uhr am Beginn, ein Blick auf die Uhr am Ende – und gut ist’s. Die Zeit dazwischen wird bezahlt.«
Ohne sie kein Aktionstag und keine Petition
Birgit Hanke streckt den Rücken und wirkt gleich ein wenig größer. Ein kleines Lächeln im Mundwinkel. Endlich sagt es mal jemand laut. Sie ist eine, der so was gelingt: dass Thomas Meyer-Fries extra für den Aktionstag aus dem fernen Bayern anreist, dass der Bremerhavener SPD-Bundestagsabgeordnete Uwe Schmidt vom Rad steigt und sich dazugesellt, dass die Leute von der SPD-Arbeitsgemeinschaft für Arbeit (AfA) die Aktion mitgeplant haben, genauso wie die Linke aus der Bremer Bürgerschaft und ver.di. Ein rot-rotes Bündnis.
Viel Wirbel gab es vor dem Aktionstag: Rote Karten für den Arbeitgeber, Mitteilungen an die Presse, ein witziges Kurz-Video auf Instagram und sogar eine Meldung in der Nordsee-Zeitung, eine Petition mit vielen Unterschriften. Mehr als 40 Menschen sind gekommen, um dagegen zu protestieren, wie der Verlag auf Kosten der Zusteller*innen spart. »Gut«, sagt Birgit, »aber zu wenige Zusteller.« Warum beteiligen sich nicht mehr? Ihre Stimme hat Kraft verloren. In solchen Momenten zweifelt sie. Dann kommt nachts ihr Kopf nicht zur Ruhe und die Schmerzen im Rücken plagen sie mehr als sonst.
Furchtlos
Die Nordsee-Zeitung galt als guter Verlag für die einst 500 und jetzt noch 230 Zusteller*innen. Ein Haustarifvertrag sichert ihnen 25 Prozent Nachtzuschlag, 34 Urlaubstage sowie eine tarifliche Jahresleistung an Weihnachten und Urlaubsgeld zu. Doch erst lagerte der Verlag einen Teil der Zustellung in eine tariflose Firma aus, dann diese Neuvermessung der Bezirke mit der Folge, dass 40 Zusteller*innen entlassen werden und viele andere einen Teil ihres Einkommens verlieren.
Es gibt Betriebsratsvorsitzende, die mindestens einmal pro Woche mit vielen Fragen bei ver.di anrufen. So eine ist Birgit Hanke nicht. Sie kennt sich aus und redet, als hätten Sätze keine Kommata und Punkte – von ungerechtfertigten Verhaltens- und Leistungskontrollen, Zustell-Apps, Einigungsstellen, nicht vom Lohn abziehbaren Minipausen.
»Angst hat sie nicht«, sagt eine Kollegin. »Sie sagt ihre Meinung. Wenn sie etwas richtig findet, zieht sie das auch durch«, ergänzt ein früheres Betriebsratsmitglied. Was treibt sie an? Sie runzelt die Stirn, ja, warum wohl. »Das ist ungerecht, mit Menschen so umzugehen. Menschenunwürdig ist das!« Wütend sagt sie das. »Alte und kranke Menschen anzutreiben, als seien sie Rennpferde!« Es sind Sätze mit vielen Ausrufezeichen. Solche, die der Betriebsleiter genauso aushalten muss wie der Stadtbaurat, der bei einer Meinungsverschiedenheit in der Siedlung, in der Hanke wohnt, meinte, sich von einer Zeitungsfrau nichts sagen lassen zu müssen. Es gibt Sätze, die sie zornig machen, und andere, die dazu noch kränken. Wenn etwa eine Mitarbeiterin der Nordsee- Zeitung von Zeitungszusteller*innen als »Arbeitsscheuen und Alkoholikern« spricht. So jemand hat keine Ahnung. Birgit Hanke hat vor ihrer Freistellung als Betriebsratsvorsitzende 32 Jahre Zeitungen zugestellt. Da klingelte der Wecker an sechs Tagen um 1.30 Uhr. Raus aus dem Bett – egal, ob es matscht und stürmt und die Büromenschen mit Blick durchs Fenster entscheiden, heute doch lieber Homeoffice zu machen. Die Leute sagten, »nach dir kann man die Uhr stellen, Birgit, so pünktlich bist du.« Um 6 Uhr waren die Zeitungen zugestellt, sie ging beim Bäcker vorbei, weckte die Jungs für die Schule, schmierte ihnen Brote, legte sich schlafen.
In ihrem Lebenslauf müsste stehen: Birgit Hanke, geboren in Bremerhaven, Mutti bei Nordmende, Vati Polier, geschieden, wenig Geld bei Mutti. In der Kneipe bedient, in Arztpraxen und Banken geputzt, Imbiss aufgemacht, mit dem Ende der Rickmers-Werft Imbiss dichtgemacht, Eis verkauft, während der Werftenkrise zwei Jobs gleichzeitig, den Ehemann an die typische Werftenkrankheit verloren: Asbestose, Lungenkrebs. Witwe mit drei Jungs: 15, 13, 9 Jahre.
Butschern und schimpfen
In Bremerhaven, der Stadt, die einst von Fischerei, Werften und der Stationierung amerikanischer Soldaten lebte, gab es für Frauen aus der Arbeiterklasse genau zwei Jobs: Nordmende, also Montage von Fernsehgeräten, oder »in Fisch machen«. Sie wollte beides nicht. Aber ihren Traumberuf Erzieherin konnte sie wegen der begrenzten Schulplätze nicht lernen.
Sie butschert durch ihr geliebtes Bremerhaven. Was so viel heißt wie rausgehen und herumschlendern. Und schimpft. Besonders über Lehe, den Stadtteil, in dem sie aufgewachsen ist. Ullas Blumenecke verlassen, Kikis Imbiss schon lange dicht, am früheren Haushaltswarenladen die Scheiben verklebt, Sperrholz im Fenster der Apotheke, Zigarettenkippen, Dreck, umherfliegende Werbezettel. Überall hier hat sie Zeitungen zugestellt, als die Welt in Bremerhaven noch anders war und viele Frachter und Handelsschiffe anlegten. Zu dem Zustelljob kam sie eher beiläufig. Weil sie Geld für den Führerschein brauchte. Und dann für eine Waschmaschine, eine neue Heizung, Fenster. Sie mochte die Arbeit. »Da hat mir keiner was vorgeschrieben.« Irgendwie ist das geblieben.