Prekäre Arbeit

Wenn vom Leben wenig bleibt

Auslagerung in der Druckindustrie: kein Tarifvertrag, kein Betriebsrat, lange Arbeitszeiten, wenig Verdienst

Die Gesellschaft sei gespalten, heißt es. Hier die Geimpften, dort die Impfgegner*innen. Das klingt, als sei die Gesellschaft vor der Corona-Pandemie eine Gemeinschaft von Gleichen gewesen. Das war sie nie. Die Gesellschaft ist schon lange gespalten – ökonomisch in solche, die über viel Geld, Einfluss und Macht verfügen, und solche, die für ihre Arbeit von allem zu wenig bekommen: wenig Geld, wenig Anerkennung, wenig Sicherheit. Um sie soll es in den kommenden Ausgaben der DRUCK+PAPIER gehen. Im ersten Teil erzählt Elena (Name geändert) ihre Geschichte.

Um 16.30 Uhr schickt Elena eine SMS: »Hallo. Ich bin jetzt aufgewacht.« Zeit hat sie keine. Sie ist auf dem Sprung in den Betrieb, um vor der Arbeit noch mit dem Schichtleiter zu sprechen. Um 18 Uhr beginnt die Nachtschicht, die wie so oft inklusive Pause fast elf Stunden dauert. Arbeitsschluss ist um 4.45 Uhr.

Gewöhnlich läuft Elena nach Hause. Ein Auto kann sie sich nicht leisten, ein Bus fährt um diese Zeit nicht; also braucht sie eine Wohnung in der Nähe der Fabrik.

Elena ist 26 Jahre alt und wanderte vor sieben Jahren aus Spanien aus. Die Tante, die schon mehr als 30 Jahre in Deutschland lebt, sagte: Komm her, hier gibt es Arbeit. Auch ihre Schwester und ihre Mutter leben in Deutschland. Kettenwanderung nennt das die Migrationsforschung. Wenn der Neffe dem Onkel nachzieht, ihm die Cousine folgt, die Eltern und Nachbarn.

»In Spanien gibt es keine Arbeit. Meine Freundin hat Friseurin gelernt und sitzt arbeitslos zu Hause. Als ich hergekommen bin, konnte ich kein Wort Deutsch. Ich hab’ mit einer App gelernt. Ich wollte in der Firma nicht mit den spanischen Leuten die Pause verbringen, weil ich dann nie die Sprache lerne. Einer der Maschinenführer ist Portugiese. Der sagte: ›Wenn du Deutsch lernen willst, sprich einfach. Trau dich! Ich korrigiere dich.‹ Also spreche ich, auch wenn ich Fehler mache. Einen Sprachkurs würde ich machen. Warum nicht. Aber wie soll das gehen, wenn ich nach elf Stunden Nachtschicht nach Hause komme.«

Elena ist Anfahrerin in einer Weiterverarbeitung. Hier werden Woche für Woche mehrere Millionen Werbebeilagen verarbeitet, die in den Haushalten in der Region verteilt werden. Mit der Ameise – einem Handhubwagen – fährt sie unter die Palette und kurvt damit an die Maschine. Sie schaut die einzelnen Jobs im Computer nach und kontrolliert die Nummern. Das Einlegen erledigen die Helfer*innen.

»Es sind immer zu wenige Leute da. Die Pause lasse ich oft ausfallen; sonst schaffe ich es gar nicht. Manchmal muss ich vier Maschinen anfahren. Ich laufe an normalen Tagen 18, 19 Kilometer, in den langen Nachtschichten 28 Kilometer. Das habe ich mit dem Schrittzähler nachgeprüft. So lange zu arbeiten, ist nicht gut. Oft habe ich nur einen Tag am Wochenende frei. Da willst du relaxen. Wenn meine Freundinnen fragen, ob ich mit ihnen Kaffee trinken gehen will, habe ich oft keine Lust. In der wenigen Zeit, die bleibt, muss ich auch die Wohnung sauber machen. Wenn ich morgens von der Nachtschicht nach Hause komme, dusche ich und frühstücke. Manchmal dauert es lange, bis ich einschlafe. Ich hab’ so viele Kopfschmerzen. Was ist das für ein Leben. Früher war das besser. Früher hatte ich nur acht Stunden Arbeit in der anderen Firma. Wir haben viel gelacht, es war einfach besser.«

Das Firmengeflecht auf dem Betriebsgelände ist verzwickt. Eine tarifgebundene Druckerei lagerte vor mehreren Jahren die Weiterverarbeitung in eine tariflose Tochterfirma aus. Diese beauftragte einen Dienstleister per Werkvertrag mit der Konfektionierung der Werbebeilagen. Ziel der Unternehmensgruppe war es, die Tarifbindung zu umgehen. Die Beschäftigten sind entweder bei dem Dienstleister oder der tariflosen Tochterfirma angestellt. Ein Vergleich von Arbeitsbedingungen und Löhnen wird dadurch erschwert. Als die Belegschaft in der tariflosen Firma einen Betriebsrat gründen wollte, wurde die komplette Belegschaft entlassen und dem Dienstleister gekündigt. Begründung der Druckerei-Geschäftsführung: Man fürchtete, dass ver.di per Streik einen Tarifvertrag durchsetzen wollte. Das hätte eine nicht bezahlbare Kostenstruktur zur Folge gehabt. Inzwischen ist ein anderer Dienstleister beauftragt. Einen Betriebsrat gibt es nicht. Elena geht manchmal zu dem Betriebsrat der tarifgebundenen Druckerei, wenn sie Fragen hat.

»Er sagt immer: ›Elena, du musst was lernen. Du bist noch jung.‹ Ich habe in Spanien einen Computerberuf gelernt, aber mein Abschluss wurde hier nicht anerkannt. Ich habe es wirklich versucht. Aber jetzt ist es auch schon zu lange her. Ich habe vieles von dem, was ich gelernt habe, vergessen.«

Jede Woche ist Elena zu anderen Zeiten eingesetzt. In der vergangenen Woche arbeitete sie am Dienstag tagsüber 8,5 Stunden und von Mittwoch bis Freitag von 6 bis 16.45 Uhr, am Samstag dann noch mal von 6 bis 14 Uhr.

Auch die Stunden, die sie im Monat arbeiten kann, sind nicht immer gleich. Im Vertrag sind ihr 120 Stunden zugesichert bei einem Stundenlohn von 10,60 Euro. 87 Cent mehr als der gesetzliche Mindestlohn. In solchen Monaten verzweifelt sie fast. Denn dann bleiben ihr nur knapp 1.000 Euro netto. In der Regel sind es 1.500 oder 1.600 Euro netto. Irgendwann stellte sie fest, dass sie weniger verdient als andere, die die gleiche Arbeit machen.

»Warum kriege ich weniger? Wenn ich nicht genauso viel kriege, gehe ich, hab’ ich gesagt.«

Jetzt erhält sie fünf Euro Prämie pro Stunde, weil sie zwei Maschinen bedienen kann. Elena hat noch einen Minijob für maximal fünf Tage im Monat in einer anderen Firma: in der gleichen Unternehmensgruppe, auch in der Weiterverarbeitung. Für den Job lässt sie sich an ihren freien Tagen einteilen. Anders kommt sie nicht über die Runden, sagt sie. Für die Miete gehen inklusive Wasser, Heizung und Strom 504 Euro ab. Außerdem 350 Euro Rate für einen Kredit in Höhe von 10.000 Euro. Den hat sie aufgenommen, um ihren schwerkranken Vater zu unterstützen, der keine Arbeit und keine Absicherung hatte.

»Ich habe keine Probleme mit der Arbeit. Aber hier läuft so viel ohne Plan und ohne System. Oft kommen neue Leute in die Firma. Ich bekomme gesagt, dass ich sie anlernen soll. Wie denn? In welcher Sprache soll ich mit ihnen sprechen? Sie kommen aus Rumänien, Ungarn, Bulgarien, bleiben drei Monate, dann sind sie wieder weg.«

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