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Mehr Zeit fürs Leben

Arbeitszeitverkürzung liegt im Trend | Als Puffer in Krisen | Immer öfter Wahlmöglichkeiten für Belegschaften

Sonntags E-Mails lesen, im Urlaub arbeiten und stets erreichbar sein – diese Arbeitswelt gibt es noch immer. Doch allmählich bricht ein neuer Trend durch. Der heißt: kürzer arbeiten. Wo immer Gewerkschaften in Tarifverträgen die Wahlmöglichkeit zwischen mehr Geld und mehr Freizeit durchsetzen, entscheidet sich die Mehrheit für die freien Tage. Bürobeschäftigte genauso wie Schichtarbeitende. Geld ist wichtig, freie Zeit wichtiger.

Meine Zeit gehört mir

Arbeitszeitverkürzung hatte lange keine Gewerkschaft mehr gefordert. Doch das Thema ist zurück – in den Köpfen, Betrieben und an den Verhandlungstischen. Nicht als kollektive Forderung wie in den 1980er-Jahren, als für die 35-Stunden-Woche gestreikt wurde. Und auch nicht bezahlt. Stattdessen gehe es um mehr Selbstbestimmung und Souveränität, sagen Arbeitszeitforscher. Jede Stunde weniger Arbeit bedeutet mehr Zeit zum Leben. Kürzer arbeiten ist zudem produktiver und gesünder. In Schweden sind Sechsstundentage keine Ausnahme mehr.

Selbst in den Betrieben, wo kürzere Arbeitszeiten helfen, Arbeitsplätze zu erhalten, ist die Zustimmung hoch. »Erst waren alle dagegen, jetzt will die 32-Stunden-Woche keiner mehr hergeben«, sagt Betriebsratsvorsitzender Frank Ostrowski vom Druckzentrum Essen. »Mit 33 Stunden lassen sich vernünftige Schichtmodelle planen«, erklärt Holger Musiol, Betriebsratsvorsitzender im Druckzentrum des Braunschweiger Zeitungsverlags. Mit der 33 könnten alle gut leben – trotz der sechs Prozent Lohnverzicht. Als der Verlag vor sechs Jahren die Hälfte der Belegschaft auf die Straße schickte, half die Arbeitszeitverkürzung, 80 Arbeitsplätze zu halten. Allerdings ist es damit bald vorbei. In Stufen steigt die Arbeitszeit auf 35 Stunden in 2021.

32 sind genug

Zum ersten Mal hat auch DS Smith in Minden die Arbeitszeit reduziert – aus der Not, wegen Auftragsrückgängen und als Alternative zu Entlassungen. Seit April ist für alle schon am Freitagmittag Feierabend. Gearbeitet werden 32 Stunden, bezahlt 33. Durchgesetzt vom Betriebsrat. Anfangs sei es ungewohnt gewesen, die Lohneinbußen täten weh und dennoch habe die Belegschaft akzeptiert, dass kurze Arbeitszeiten Jobs sichern. »Ich könnte mir vorstellen, dass nach dem Jahr ein großer Teil der Beschäftigten gern bei einer 32-Stunden-Woche bleiben würde«, sagt der Betriebsratsvorsitzende Werner Kulack.

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