Nicht jeder hat sechs Richtige
Warum Ungleichheit größer geworden ist und wie hohe Löhne für Ausgleich sorgen können
Den Menschen in Deutschland ging es noch nie so gut, sagt die Bundeskanzlerin oft. Stimmt das? Klar. Wenn man Manager ist, aus einer reichen Familie stammt oder im Lotto gewonnen hat.
Die meisten Menschen in Deutschland könnten nicht lange von ihren Rücklagen, Zinsen, Dividenden oder Mieteinnahmen leben. Sie haben keine. Eine Umfrage sagt: Zwei Drittel aller Haushalte haben nach wenigen Wochen oder Monaten alles aufgebraucht, was sie zurückgelegt haben. Reiche Haushalte können dagegen 20 Jahre lang allein von ihrem Vermögen leben. Das ist Ungleichheit. Die gibt es nicht nur beim Vermögen, sondern auch beim Einkommen. Und wer kein Vermögen hat, ist umso dringender auf das Geld angewiesen, das man für seine Arbeit erhält.
Bald beginnen die Lohn-Tarifverhandlungen in der Druckindustrie und Papierverarbeitung. ver.di und die Belegschaften werden für mehr Lohn streiten und die Unternehmerverbände werden nichts hergeben wollen. Ungleichheit ist kein Naturgesetz, sondern politisch gefördert. Forscher vom Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) kritisieren die Schwächung des Tarifsystems, die auch die Ungleichheit beim Einkommen verstärkt hat.
Wo kommt die Ungleichheit beim Einkommen her?
Abhängen
Nach der Wiedervereinigung 1990 ist es nicht gelungen, das Tarifsystem aus dem Westen in den Osten zu übertragen. In den neuen Bundesländern wickelte die Treuhand die Betriebe der DDR ab und Westunternehmer gründeten neue, tariflose. Viele Menschen wurden arbeitslos gemacht. Auf einmal gab es eine große Reserve an billigen Arbeitskräften.
Auslagern
Von den 1990er-Jahren an lagerten Unternehmen, Verwaltungen, Krankenhäuser ihre Kantinen und Küchen, Labore, Reinigung und Sicherheitsdienste an Fremdfirmen aus. Mehr und mehr Unter nehmen folgten. Die Beschäftigten in den ausgelagerten Firmen erhalten einen niedrigeren Lohn als zuvor, die Kolleg/innen in den Stammbetrieben wurden zu Zugeständnissen gezwungen.
Konkurrieren
Die EU beschloss 2003, zehn Staaten aus dem Osten aufzunehmen (EU-Osterweiterung). Unternehmen in Deutschland beschäftigten daraufhin Menschen aus Polen, Slowenien, Tschechien oder der Slowakei am Bau, in der Landwirtschaft und Fleischindustrie und Pflege zu den niedrigen Löhnen und schlechten Arbeitsbedingungen aus deren Heimatländern. Oder Industrie und Dienstleister verlagerten Produktionsstätten direkt in die neuen Niedriglohnländer.
Drohen
Die rot-grüne Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) drohte den Gewerkschaften 2003 damit, das Günstigkeitsprinzip abzuschaffen, wenn sie keine Öffnungsklauseln in Tarifverträgen zuließen. Das Günstigkeitsprinzip sagt, dass bei konkurrierender tariflicher, betrieblicher oder arbeitsvertraglicher Regelung immer die für Beschäftigte günstigere Regelung angewendet werden muss. So wurden durch politischen Druck Öffnungsklauseln in Tarifverträgen möglich, die Verschlechterungen beinhalteten. Das hat in vielen Unternehmen zu dauerhaft niedrigen Löhnen geführt.
Austesten
Die Unternehmen in den neuen Bundesländern machten die Erfahrung, dass sie ungestraft davonkommen, wenn sie keine Tarifverträge anwenden. Anders als in Frankreich, Belgien oder den Niederlanden sind in Deutschland Tarifverträge nicht in einer ganzen Branche gültig. Das System, keine Tarifverträge anzuwenden, wurde nach der Wende in die alten Bundesländer übertragen: Wo Gewerkschaften und Belegschaften schwach waren, galt fortan kein Tarifvertrag mehr. Unternehmerverbände ließen es außerdem zu, dass ein Unternehmer bei ihnen Mitglied sein konnte, ohne den Tarifvertrag anwenden zu müssen.
Erzwingen
Durch die Hartz-Gesetze müssen Arbeitslose seit den 2000er-Jahren auch Arbeit annehmen, die nicht ihrer Qualifikation entspricht und schlecht bezahlt ist. Auf die Weise wurden massenhaft Arbeitslose in Leiharbeit gezwungen.
Privatisieren
Einst öffentliche Dienstleistungen wurden profitorientierten Anbietern geöffnet. Das hat die EU-Kommission auf Initiative der meisten Mitgliedsländer europaweit in den 1990er-Jahren durchgesetzt. Die neuen Anbieter, die nicht an Tarifverträge gebunden waren, zahlten niedrigere Löhne, gewährten weniger Urlaub und hatten längere Arbeitszeiten – und konnten deshalb Produkte und Dienstleistungen billiger als tarifgebundene Unternehmen anbieten. Dadurch sank nicht nur die Tarifbindung, die zuvor etwa bei Bahn, Post, Telekommunikation, öffentlichem Nahverkehr und Müllabfuhr bei 100 Prozent gelegen hatte. Sondern Gewerkschaften mussten – auch in anderen Branchen – Lohnsenkungen und Arbeitszeitverlängerungen zustimmen, um das Über leben der bisherigen Anbieter zu sichern.
All das hat zur Folge, dass Menschen für einen Lohn arbeiten müssen, der nicht zum Leben reicht, dass weniger Beschäftigte in tarifgebundenen Betrieben arbeiten und befristete Jobs, Teilzeit und Leiharbeit nicht mehr die Ausnahme darstellen.
Zum Weiterlesen
Gerhard Bosch, Thorsten Kalina: Wachsende Ungleichheit in der Prosperität. Einkommensentwicklung 1984 bis 2015 in Deutschland. IAQ-Forschung, 3/2017.
Die Laufzeit des Lohntarifvertrags der Druckindustrie endet am 31. August 2018. Die Friedenspflicht einen Monat später. Erst danach kann gestreikt werden. Bei der Papierverarbeitung endet mit der Laufzeit des Lohntarifvertrags am 31. Oktober 2018 auch die Friedenspflicht. Die Tarifkommission der Druckindustrie wird im Juni und die der Papierverarbeitung im September darüber beraten, ob die Lohn-Tarifverträge gekündigt werden und – wenn ja – welche Lohnerhöhungen sie fordern.