Der Mann mit den zwei Jobs
Frank Marsall: nicht freigestellter Betriebsratsvorsitzender beim Folienhersteller Constantia Ebert | Deals mit dem Arbeitgeber lehnt er ab
Frank Marsall grübelt. Wieder als Betriebsrat kandidieren? Oder aufhören. Sollen doch die anderen ran. Die Krakeeler, die Besserwisser. Er sagt das nicht aufgebracht. Eher so, als ob er ein Bier bestellt. Warum tue ich mir das an? Seine Frau sagt: Du tust es ja doch wieder.
Frank Marsall, 54, legt das Werkzeug auf seinen Wagen und setzt das Häubchen auf den Kopf. Zieht es runter auf die Stirn. Hygienevorschrift. Damit kein Haar aufs Bonbonpapier fällt. Er zieht den Wagen raus in die Halle. Kunststoff trifft Hitze, meldet die Nase. Seine nicht. Nach 25 Jahren in der Folienherstellung reagiert sein Geruchssinn nicht mehr panisch. An der Tiefdruckrotation reißt ständig die Folie, irgendwas mit dem Rollenwechsel. Mehr hat ihm der Drucker nicht gesagt. In der Werkstatt hatte er sich den Schaltplan in Ruhe angeschaut, vorsichtig die vergilbten, eingerissenen Seiten umgeblättert. Die Maschine hat schon viele Jahre auf dem Buckel.
Kommt der erste Kollege von der Maschine gegenüber. Eine neue Arbeitshose bräuchte er. Der Nächste brummelt, dass ihm sein Urlaub nicht genehmigt wurde. Und die Abluftreinigung müsse mal überprüft werden. Frank Marsall ist Betriebsratsvorsitzender und einer von drei Energie- elektronikern. Und immer für alles zuständig. Vom verstopften Klo über den defekten Getränkeautomaten, fürs Arbeitszeitmodell und die Rufbereitschaft, für fünf Druckmaschinen, sieben Rollenschneider, Metallisierungsanlagen, Folienmaschinen. Der Mann mit den zwei Jobs.
Die meisten Stimmen
Vor 17 Jahren hat ihn Mahmut Öner – heute sein Stellvertreter – gefragt, ob er für den Betriebsrat kandidieren wolle. »Frank, dachte ich mir, ist der Richtige. Er hat sich immer gekümmert und ist ein kollegialer Typ«, erzählt Mahmut Öner. Im Jahr 2000 hatte Ebert Folien in Wiesbaden (jetzt: Constantia Ebert) Leute entlassen und Sozialpläne verabschieden müssen; das damalige
Betriebsratsgremium hatte sich unter dem Druck zerlegt. Frank Marsall erhielt bei der Wahl die meisten Stimmen. Er erklärt sich das so: »Das liegt an meiner Arbeit. Ich bin den ganzen Tag im Betrieb unterwegs.« Da sprechen ihn die Kollegen und Kolleginnen eben an, da geht‘s eben nicht mehr nur um die defekte Maschine.
Weil die Belegschaft bei Constantia Ebert nur 130 Köpfe zählt, ist Frank Marsall nicht von der Arbeit freigestellt. Das wäre laut Betriebsverfassungsgesetz erst ab 200 Beschäftigten möglich. Von der Arbeit ganz oder teilweise freigestellt ist auch nur etwa jeder sechste Betriebsrat. Nichtfreigestellte – das sind die meisten – hätten eine undankbare Rolle, sagte einst Erhard Tietel, Professor an der Universität Bremen, der zu dem Thema forschte. Nichtfreigestellte fühlten sich oft zerrissen zwischen Beruf und Betriebsratsarbeit. Geplagt vom Schuldgefühl, niemandem gerecht zu werden.
Von der Werkstatt…
Wie ein Geplagter wirkt Marsall nicht. Eine Freistellung für die Betriebsratsarbeit würde er gar nicht wollen. Höchstens eine Hilfe für die Büroarbeit. Und mehr Zeit, das wäre nicht schlecht. Wenn er freigestellten Betriebsräten aus anderen Unternehmen zuhört, denkt er, die Zeit möchte ich auch mal haben.
Aber es ist doch so: Für ihn als Elek triker ist kein Tag wie der andere. Morgens weiß er nicht, woran er mittags arbeiten wird. »Routine ist doch ein Grauen.« Ist eine Maschine defekt, tüftelt er und probiert und tut und macht. Dann läuft sie wieder. Als Betriebsratsvorsitzender freut er sich, wenn ihm die kleinen Dinge gelingen, wenn er einen Kollegen für eine bessere Position empfehlen oder bei Konflikten vermitteln konnte. »Dann klebe ich mir ein Bild in ein imaginäres Album.« Dick ist es nicht, sagt er.
Manchmal steht er dazwischen. Hier die Geschäftsleitung, die eine flexible Belegschaft will. Immer einsatzbereit. Dort die Beschäftigten. Denen schon die vier Muss-Samstage im Jahr zuwider sind. »Die kommen mit Maximalforderungen, von denen ich weiß, dass die Geschäftsführung sie abschmettern wird. Gibt’s einen Kompromiss, sind sie unzufrieden.« An solchen Tagen denkt Marsall ans Aufhören. Gibt ja schließlich eine Alternative. Ein Job statt zwei.
Was in ihm schlummert
In puncto Kompromisslosigkeit passt die Belegschaft zum Betriebsratsvorsitzenden. »Frank hält sich stur an die Vereinbarungen«, sagt sein Stellvertreter Mahmut Öner. Und Deals, wie sie andere Betriebsräte eingehen, Schachern mit dem Arbeitgeber: gibst du mir das, kriegst du was anderes, lehnt er ab.
Es ist noch nicht lange her, da herrschte über Jahre schlechte Stimmung im Betrieb. Mit Anschissen, Druck und Abmahnungen. Viele haben gekündigt. Kaum eine Betriebsvereinbarung, die nicht vor der Einigungsstelle landete. »Das hat extrem gezehrt.« Kollegen erzählen, dass Frank Marsall in der Konzernzentrale anregte, mal genauer auf den Standort in Wiesbaden zu schauen. Immer wieder habe er das getan. Er wird mit ruhiger Stimme gesprochen haben. Nicht laut, nicht hart. So wie immer. Inzwischen ist der alte Geschäftsführer weg, ein neuer ist da.
Feierabend. Frank Marsall zieht das Häubchen vom Kopf und den roten Kittel aus, steigt ins Auto und fährt zum Unterricht in der Wiesbadener Musik- und Kunstschule am Schillerplatz. Packt das Tenorsaxofon aus, legt sich den Trageriemen um, umschließt das Mundstück mit den Lippen, legt die Finger auf die Klappen. Eins, zwei, drei, Einsatz. Vor vielen Jahren hat ihn ein Kollege, der Schlagzeug lernte, mal mitgenommen zur Musikschule. Hat ihn inspiriert. »Das hat einfach in mir geschlummert.« Jazz mag er, Bossa Nova, Soul.
… zum Saxofon-Unterricht
Nach der Unterrichtsstunde wird er drei Stockwerke nach unten gehen, wo seine Band jeden Donnerstag probt. Die Fusion- Band Cue Up. Hier lässt er alles hinter sich: Einigungsstellen, grantelnde Beschäftigte, den ganzen Laden. »Man konzentriert sich und es kommt was Gutes raus.« Und es macht einfach nur Spaß.
Frank Marsall
In seiner Familie war es üblich, in der Gewerkschaft zu sein. Der Vater, ÖTV-Mitglied, Betriebsrat. Der Sohn, 16, Lehrling, IG Chemie-Papier-Keramik. Frank Marsall lernt im Wiesbadener Werk Albert des Chemiekonzerns Hoechst den Beruf des Energieanlagenelektronikers. Inzwischen ist er seit 25 Jahren bei Ebert in Wiesbaden beschäftigt und seit 17 Jahren Betriebsratsvorsitzender. Seine Ämter bei ver.di: Er gehört zur Tarifkommission und zum Landesfachgruppenvorstand der Papierverarbeitung sowie zum Bundesfachbereichsvorstand und ist Landesbezirksvorsitzender des Fachbereichs in Hessen.
Das Unternehmen
Beim Folienhersteller Constantia Ebert in Wies baden sind 130 Männer und Frauen beschäftigt, die Belegschaft wurde in 25 Jahren mehr als halbiert. Constantia Ebert (früher: Ebert Folien) gehört zu Constantia Flexibles mit Sitz in Wien mit mehr als 10.000 Mitarbeiter/innen in 55 Produktionsstandorten und 23 Ländern. An Con stantia Flexibles hält die französische börsennotierte Beteiligungsgesellschaft Wendel Group 61 Prozent der Anteile, die Investmentfirma Maxburg Capital Group 11 Prozent und die Turnauer Stiftung 27 Prozent.