Arbeit

Interview mit Reinhard Bispinck

Rahmenbedingungen der Tarifrunde in der Papierverarbeitung sind gut.

DRUCK+PAPIER: ver.di fordert für die rund 100.000 Beschäftigten der Papier, Pappe und Kunststoffe verarbeitenden Industrie fünf Prozent mehr Geld in zwölf Monaten. Der Unternehmerverband HPV sieht dadurch »die Wettbewerbsfähigkeit gefährdet«. Können Sie das nachvollziehen?

Reinhard Bispinck: Nein. Die deutsche Industrie ist im internationalen Vergleich hochgradig wettbewerbsfähig. Lange Jahre stiegen die Arbeitskosten hierzulande deutlich langsamer als in den europäischen Nachbarländern. Die Tarifforderung gefährdet keinen einzigen Arbeitsplatz.

Der HPV verweist auf niedrige Lohnabschlüsse in anderen Branchen. Sind andere Belegschaften so bescheiden?

Auch das trifft nicht zu: In fast allen Branchen haben die Gewerkschaften in dieser Tarifrunde fünf Prozent mehr Geld gefordert. In manchen Bereichen sogar bis zu sechs Prozent. Natürlich können diese Forderungen in der Regel nicht eins zu eins durchgesetzt werden. Aber die meisten Tarifabkommen sehen für dieses Jahr immerhin Abschlussraten zwischen 2,5 und drei Prozent vor.

Dr. Reinhard Bispinck ist Leiter des Tarifarchivs im Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.

Wie würden sich kräftige Lohnerhöhungen auf die Wirtschaft insgesamt auswirken?

Sie stabilisieren die Arbeitnehmereinkommen und damit die private Nachfrage. Dies ist eine wesentliche Stütze der konjunkturellen Entwicklung. Wir brauchen daher dringend eine Fortsetzung der positiven Lohnentwicklung der vergangenen Jahre.

In vielen europäischen Ländern werden Löhne und Sozialleistungen gekürzt. Müssen wir da nicht auch den Gürtel enger schnallen?

Das wäre fatal. Die Kürzungen in den europäischen Krisenländern waren schon die falsche Medizin. Sie haben die Krise nicht gelöst, sondern zum Teil dramatisch verschärft. Wenn wir den Gürtel enger schnallen würden, bedeutete dies indirekt eine weitere wirtschaftliche Schwächung unserer Nachbarländer. Eine gut laufende Binnenkonjunktur in Deutschland gibt auch ihnen eine bessere ökonomische Perspektive.

Lohndumping durch tariflose Unternehmen ist in der Papierverarbeitung ein großes Problem. Helfen allgemeinverbindliche Tarifverträge tatsächlich dagegen?

Allgemeinverbindliche Tarifverträge binden alle, auch nicht tarifgebundene Unternehmen an die Tarifstandards. Das verhindert Lohndumping und hat einigen Branchen in der Vergangenheit sehr geholfen. Bis zum Jahr 2000 waren beispielsweise die Tarifverträge im gesamten Einzelhandel allgemeinverbindlich. Seit der Aufkündigung der Allgemeinverbindlichkeit sind die Einkommensbedingungen in den tariffreien Unternehmen deutlich schlechter geworden.

Können Sie sich erklären, warum der Unternehmerverband HPV sich dennoch gegen diesen ver.di-Vorschlag sperrt?

Viele Arbeitgeberverbände bieten ihren Unternehmen eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung (OT) an. Sie fürchten vermutlich, dass sie die OT-Mitglieder bei einer Allgemeinverbindlicherklärung der Tarifverträge verlieren. Aber das ist sehr kurzsichtig. Allgemeinverbindliche Tarifverträge machen mittelfristig auch den Arbeitgeberverband attraktiver. Denn nur Verbandsmitglieder können wirkungsvoll auf die Tarifpolitik Einfluss nehmen.