Debatte zum Tarifabschluss
Manuel und Hannah arbeiten in der gleichen Druckerei und sind miteinander befreundet. Über die Bewertung des jüngsten Tarifabschlusses können sie sich allerdings nicht einigen. Sie geraten immer wieder aneinander. Ein Streit, wie er überall stattfinden könnte.
»Das darf nicht wahr sein«, murmelt Hannah. Sie pickt die Reißzwecken ab und reißt das Flugblatt mit dem ver.di-Logo ruckartig vom Schwarzen Brett, kneift die Augen zusammen und liest noch mal. »Hätte doch schlimmer kommen können, oder?« Manuel stupst sie mit dem Ellenbogen an. Keine Antwort. »Hey, was ist denn los? 3,8 Prozent, das ist doch nicht schlecht.«
»Wir machen uns doch unglaubwürdig.«
»Klar.« Hannah spricht das kurze Wort so gedehnt aus, als würde sie einen Kaugummi langziehen. »Wer nicht auf die Laufzeit guckt, findet den Abschluss super. Das macht aber nicht mal zwei Prozent effektive Lohnerhöhung im Jahr aus. Wir machen uns doch unglaubwürdig.« Hannah knüllt das Flugblatt zusammen, zielt auf den Papierkorb, wirft. Daneben. »Wir fordern lauthals fünf Prozent und schaffen nicht mal die Hälfte. Wer soll uns denn noch ernst nehmen? Mal abgesehen davon, dass wir ein Prozentpunkt hinter den Abschlüssen der Metall- und Elektroindustrie und dem öffentlichen Dienst zurückbleiben. Wir sind aber mit dem Ziel angetreten, dass wir nicht abgehängt werden. Und …«
»Der Tarifvertrag insgesamt stand auf der Kippe.«
»Ich finde, du übertreibst mit deiner Kritik.« Manuel bückt sich, hebt das Papierknäuel auf und streicht es glatt. »Ja, der Abschluss ist nicht bombastisch. Da gebe ich dir Recht. Ja, in den anderen Branchen wurde mehr rausgeholt. Stimmt auch. Aber bei uns stand der Tarifvertrag insgesamt auf der Kippe.« Manuel hängt das zerknitterte Flugblatt wieder ans Schwarze Brett. Er dreht sich um zu Hannah, die mit verschränkten Armen vor ihm steht. »Die Verhandlungen waren zwischendurch schwer ins Stocken geraten. Es sah so aus, als würde kein Flächentarifvertrag mehr zustande kommen. Irgendwann wäre der Lohn im freien Fall gewesen. Unten nur aufgehalten vom gesetzlichen Mindestlohn. Jede Belegschaft, die nicht die Kraft gehabt hätte, sich zu wehren, wäre mit miesen Löhnen abgespeist worden. Der gesamte Konkurrenzkampf zwischen den Unternehmen wäre zu Lasten der Beschäftigten und auf Kosten ihrer Löhne ausgetragen worden. Eine lange Laufzeit, ein paar Nullmonate, das ist eben der Preis, den wir dafür zahlen müssen, dass der Flächentarifvertrag erhalten bleibt. « Hannah fällt ihm schon ins Wort, kaum dass er den letzten Satz zu Ende gesprochen hat. »Wie oft ich das schon gehört habe. Früher hieß es immer, wir müssen uns mit einer niedrigen Lohnerhöhung zufrieden geben, weil der Arbeitgeber verband den Manteltarifvertrag angegriffen hat und wir den verteidigen mussten. Jetzt ist es nicht der Mantel, sondern der Lohntarifvertrag. Das kann doch so nicht weitergehen. Was kommt das nächste Mal? Eine noch längere Laufzeit, noch mehr Nullmonate und noch weniger Prozente?« Der Streit der beiden bleibt nicht ungehört. Inzwischen hat sich eine kleine Traube um das Schwarze Brett gebildet. Manuel schüttelt den Kopf. Schwarzmalerei kann er nicht leiden. Doch Hannah lässt nicht locker. »Jetzt sag doch mal. Wir legen uns hier krumm, streiken eine Schicht nach der anderen, lassen uns vom Chef anpflaumen, haben nach dem Streik mehr denn je zu tun, um bei der Arbeit hinterherzukommen. Und andere Belegschaften tun so, als ginge sie das alles nichts an, aber die Lohnerhöhung nehmen sie mit.« Die Debatte haben die beiden schon oft geführt, im Grunde nach jeder Tarifauseinandersetzung. Normalerweise kontert Manuel damit, dass immer mehr Druckbetriebe in den vergangenen Jahren dicht gemacht hätten. Darunter auch viele mit streikbereiten Belegschaften. Und die fehlten jetzt eben in der Tarifauseinandersetzung. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Wenn er ehrlich ist, ist er auch sauer. »Das geht mir doch nicht anders. Aber Wut allein bringt kein ordentliches Tarifergebnis. Arbeitgeber sind nur dann bereit, mehr Lohn zu zahlen, wenn sie unter Druck gesetzt werden. Und das von vielen Belegschaften.«