Prekäre Arbeit

»Ich bin gesund, habe zwei Jobs, es geht mir gut!«

Arbeit auf Abruf als Einlegerin beim Westfalen Druck | Maximal flexibel

Mit ihrem Stundenlohn ist Janina Kraemer zufrieden. 16,06 Euro – das ist exakt die Vergütung für ihre Lohngruppe im Tarifvertrag der Druckindustrie. Der Stundenlohn ist auch nicht das Problem, sondern die wenigen Stunden, die sie arbeiten kann. Seitdem der Zeitungsverlag (Westfalen-Blatt) in Bielefeld mehrere Anzeigenblätter eingestampft hat, haben sich die Arbeitsstunden für alle Einleger*innen drastisch reduziert. Vor zehn Jahren arbeitete Janina Kraemer etwa 30 Stunden pro Woche, heute sind es oft nur 20 oder weniger. Mehr Arbeit gibt es nicht. Jetzt hat sie einen Zweitjob in ihrem ursprünglichen Beruf als Floristin in einem Blumenladen. Zwei Jobs, zwei Chefs, doppelte Wege.  

Ich will überhaupt nicht jammern. Ich bin gesund, habe Arbeit, es geht mir gut! Ich bin nicht der Typ, der sich groß Sorgen macht. Wenn eine Tür zugeht, geht woanders eine neue auf. Ich bin genügsam und muss nicht dauernd was Neues haben. Aber einmal die Woche richtig schön mit einer Freundin essen gehen, das gönne ich mir. Das Essen darf auch mal 20 Euro kosten. Für den Urlaub lege ich jeden Monat 50 Euro zurück. Weil ich schon voriges Jahr gebucht habe, konnte ich mir eine Woche Kreta leisten. 

Für meine 70 Quadratmeter zahle ich nur 570 Euro warm. Das ist für Bielefeld eine günstige Miete. Meine Vermieterin ist eine nette, alte Dame, der ich im Garten helfe. Ich schaue immer, wo ich günstig einkaufen kann. Weil wir die Prospekte einlegen, sind wir bestens informiert, welcher Discounter gerade Sonderangebote hat. Mit einer Kollegin habe ich eine Fahrgemeinschaft, sodass wir uns das Geld fürs Benzin teilen können. Die Druckerei ist zwar nur 20 Kilometer entfernt, aber die Verbindungen mit dem öffentlichen Nahverkehr sind so schlecht, dass wir aufs Auto angewiesen sind.

Janinas Modell heißt Arbeit auf Abruf: Sie arbeitet, wenn Arbeit da ist. Und bleibt weg, wenn es keine Arbeit gibt. Maximal flexibel. In ihrem Arbeitsvertrag, den sie vor 16 Jahren mit dem Zeitungsverlag abgeschlossen hat, steht nicht, wie viele Stunden sie pro Woche zu leisten hat. In einem solchen Fall gilt eine Arbeitszeit von 20 Stunden als vereinbart. So steht es im Teilzeit- und Befristungsgesetz. Dort ist auch festgelegt, dass ein Unternehmen die Abrufkräfte mindestens für drei aufeinanderfolgende Stunden beschäftigen muss. Doch die Einleger*innen beim Westfalen Druck wollen mehr. Rund 20 Beschäftigte haben Klage eingereicht. Sie fordern die Bezahlung entgangener Arbeitsstunden sowie einen festen Anspruch auf das jahrelange Stundenkontingent von rund 30 Stunden pro Woche. 

Die Kolleginnen haben mir aufgetragen, dass ich unbedingt erzählen soll, wie sehr dieses unstete Arbeiten nervt. Wie alle anderen Schichtarbeiter*innen arbeiten wir früh, spät oder nachts. Damit fällt alles Regelmäßige wie Mannschaftstraining oder VHS-Kurse schon mal flach. Anders als zum Beispiel die Drucker haben wir keine langfristigen Einsatzpläne. Wann wir arbeiten, erfahren wir eine Woche im Voraus. Ob ich also am zweiten Weihnachtsfeiertag arbeite oder eine Geburtstagseinladung zusagen kann, weiß ich erst ein paar Tage vorher. Inzwischen gibt es bei uns ein Wunschbuch. Darin können wir eintragen, wann wir nicht eingesetzt werden wollen.

Private Pläne für die Arbeitstage muss man gar nicht machen. Denn ich weiß zwar, wann mein Arbeitstag beginnt, aber nicht, wann er endet. Außer an den Donnerstagen, an denen die Tagschicht immer von 7.30 bis 17 Uhr dauert. Mittwochs fange ich um 13 Uhr an. Fertig bin ich nach fünf, sechs oder acht Stunden. Je nach Arbeitsanfall: Gibt es viele Prospekte, bleiben wir länger; gibt es wenige, sind wir schneller fertig und verdienen weniger. Manchmal wird sogar der Wochenplan noch umgeschmissen. Anruf vom Chef: »Kannste kommen?« Also stellt man den Ofen aus und fährt zur Arbeit. Klar kann man Nein sagen. Aber dann verdiene ich nichts. Manchmal wird auch ein Einsatz abgesagt, weil die Auflage kleiner ist als geplant. Das Geld fehlt mir dann.

Vor zwei Jahren wechselte der Westfalen Druck in die Mitgliedschaft ohne Tarif. Noch verhandelt ver.di mit dem Unternehmen über einen Haustarifvertrag. Bezahlt werden tarifliche Stundenlöhne, Urlaubs- und Weihnachtsgeld, Antrittsgebühr und Zuschläge für Überstunden oder Nachtarbeit. Der Betriebsrat achtet darauf, dass die Schichten mit Zuschlägen einigermaßen gerecht verteilt werden. Im Durchschnitt erhält Janina Kraemer, 54, knapp 1.300 Euro netto im Monat. Mit ihrem Zweitjob kommt sie auf rund 1.700 Euro. Sie ist nicht die Einzige mit Minijob. Etliche Einleger*innen arbeiten in Küchen, Altenheimen, auf Putzstellen. 

Früher waren wir eine kleine, feste Belegschaft von etwa 30 Leuten, hatten die ganze Woche Arbeit und haben gutes Geld verdient. Jetzt sind oft Aushilfen aus Leihfirmen da, wir arbeiten nur noch drei Tage pro Woche und der Verdienst ist geschrumpft. Keine Ahnung, wie es weitergeht. Wenn noch mehr Einzelhändler keine Prospekte mehr drucken, verlieren wir weitere Stunden. Ich will mir aber auch nicht dauernd Sorgen machen.

Wenige Tage nach dem Interview erfährt Janina Kraemer, dass ein weiteres Anzeigenblatt bis Jahresende eingestellt wird. 

Die Gesellschaft ist gespalten. In diejenigen, die über viel Geld, Einfluss und Macht verfügen, und die anderen, die für viel Arbeit wenig Geld, Anerkennung und Sicherheit bekommen. Um sie geht es in unserer Serie, die mit dieser Ausgabe endet.

Der erste Teil: t1p.de/drupa-1-22-prekaer
Der zweite Teil: t1p.de/drupa-2-22-prekaer
Der dritte Teil: t1p.de/drupa-3-22-prekaer