Historisches

Diskutiert über Machtstrukturen und Ausbeutung!

Arbeiterkind, Buchdrucker und Vorsitzender der IG Druck und Papier: Leonhard Mahlein hätte seinen 100. Geburtstag gefeiert

»Die Bedrohung der gesamten Lebens- und Arbeitssituation erfordert von den Gewerkschaften eine Neuorientierung ihrer Politik. (…) Eine nur isolierte Verbesserung einzelner Arbeitnehmer-Interessen wird den umfassenden Verschlechterungen gegenüber nicht mehr gerecht. Wir müssen als Gewerkschafter dazu beitragen, dass wieder eine öffentliche Grundsatzdebatte über Gesellschaftsfragen und über Machtstrukturen geführt wird.«
Loni Mahlein, 1985, auf dem Kongress der Internationalen Grafischen Föderation in Helsinki. Archivfoto: Udo Hoffmann

Leonhard Mahlein wäre am 4. April 100 Jahre alt geworden. 15 Jahre lang war er Vorsitzender der IG Druck und Papier, einer der Vor-Vorläuferorganisationen von ver.di. Loni, wie ihn Freunde riefen, galt als klassenbewusst, analytisch und weitsichtig. Kommunist war er und dann Sozialdemokrat. Seine rechten Widersacher nannten ihn wegen seiner Nähe zur DKP abfällig Leonid, schrieb Der Spiegel 1985 in seinem Nachruf. Ist es denn noch heute aktuell, was Loni vor Jahrzehnten gesagt hat? DRUCK+PAPIER hat Weggefährten und Nachgeborene gebeten, eine Aussage von Loni zu kommentieren.

Franz Kersjes

»Es gilt immer noch: Im Sinne Loni Mahleins müssen sich die Gewerkschaften in alle Fragen des politischen Lebens einmischen. Dazu gehört die Verteidigung der Gewerkschaftsrechte, vor allem des Streikrechts. Das ist unverzichtbar, um vereint für alle Erwerbstätigen höhere Löhne und Gehälter, bessere Arbeitsbedingungen durchzusetzen, auch mehr Mitbestimmung, die Umverteilung des Reichtums in der Gesellschaft und mehr Demokratie zu erkämpfen. Letztlich heißt es, die Herrschaft des Kapitalismus zu brechen, und zwar auf demokratischem Weg. Und Gewerkschaften müssen ebenso entschieden dazu beitragen, weltweit den Frieden zu sichern und die internationale Solidarität weiterzuentwickeln.«

Bis 2001 Gewerkschaftssekretär und u.a. Vorsitzender des Landesbezirks Nordrhein-Westfalen der IG Druck und Papier und der IG Medien. Foto: Jürgen Seidel

Wem immer die beiden Sozialdemokraten zuhören: Willy Brandt war damals SPD-Parteivorsitzender und Mahlein Vorsitzender der IG Druck und Papier. Archivfoto: Udo Hoffmann

Detlef Hensche

»Das war Weitblick! Gewiss, schon in den 70er-Jahren zeichnete sich ab, dass die kapitalistische Marktwirtschaft ihre Wohlstands- und Aufstiegsverheißung auf Dauer nicht werde einlösen können. Die Tarifpolitik setzte angesichts wachsender Arbeitslosigkeit auf Rationalisierungsschutz und Arbeitszeitverkürzung. Beide Ziele hatte Loni Mahlein noch mitgeprägt. Doch tarifvertraglicher Schutz und Fortschritt bestimmen nur einen Ausschnitt und vermögen das Kräfteverhältnis nur punktuell und vorübergehend zu ändern. Der Blick aufs Ganze ist umso dringlicher, als die Ausbeutung von Menschen und Natur unser aller Lebensgrundlage zerstört. Gefordert ist daher eine ›Grundsatzdebatte‹ über unsere Produktions- und Lebensweise; die Gewerkschaften dürfen nicht abseits stehen.«

Vorsitzender der Industriegewerkschaft Medien, Kunst und Industrie (1992–2001). Foto: Stefanie Herbst

Lonis letzter Gewerkschaftstag 1983. Erwin Ferlemann (vorn) folgt Mahlein als Vorsitzender der IG Druck 
und Papier und später der IG Medien, deren Vorsitzender 1992 Detlef Hensche (vierter in der Reihe) wird. Archivfoto: Harald Frey

Alfred Roth

»Mit Blick auf Loni Mahlein zeigt sich, dass dem DGB wie den Gewerkschaften insgesamt eine Theorie gesellschaftlicher Umwälzung fehlt. Statt den Interessengegensatz von Kapital und Arbeit als Kernproblem zu benennen, begnügen sie sich mit tarifpolitischer Wurschtelei. Wer politische Gegenmacht sein will, muss auch im Alltag Herzen und Bewusstsein der Menschen gewinnen. Das heißt aufzudecken, was Unternehmerverbände und ihre Denkfabriken mit neoliberalen Denkmustern bezwecken. Schlagwörter wie ›New Work‹, ›agiles Arbeiten‹, ›Selbstverwirklichung durch Selbstoptimierung‹ verschleiern tatsächliche Abhängigkeitsverhältnisse. Aber das betreiben die Arbeitgeberverbände und ihre sogenannten Denkfabriken ebenso wie die bei uns bestimmenden alten wie neuen Medien.«

Betriebsratsvorsitzender der VRM in Mainz, Mitglied im Bundesfachgruppenvorstand VDP, im Bundesfachbereich und Landesgründungsvorstand A. Foto: Harald Kaster

Archivfoto: Harald Frey

Lena Carlebach

»Wir brauchen unbedingt eine Neuorientierung: Dazu gehört die Notwendigkeit, dass wir ein neues Selbstverständnis entwickeln. Beispielsweise müssen Frauen* mit Kindern noch viel zu sehr darum kämpfen, gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, Beruf und Familie vereinbaren zu können. Alle Benachteiligungen – wegen sexueller Orientierung, wegen des Glaubens, wegen der Herkunft – müssen abgeschafft werden! Ganz vorne muss dabei die Auseinandersetzung mit faschistischen Organisationen stehen, aber auch mit deren mehr oder weniger offensichtlichen Freund*innen der ›bürgerlichen Mitte‹. Im Kampf gegen Rassismus, Sexismus, Faschismus können Antifaschist*innen und Gewerkschafter*innen zusammen viel erreichen.«

Lena Sarah Carlebach, Psychologin, Vorstandsmitglied des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora und Kommandos und langjähriges Mitglied der VVN/BdA (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten). Von ihrem Großvater Emil Carlebach mitgegründet, einem kommunistischen Widerstandskämpfer, KZ-Häftling, Mitgründer der Frankfurter Rundschau.
 Lena mit Großtante Lee Edwards, geborene Liesel Carlebach, die mit einem Kindertransport vor den Nazis aus Frankfurt fliehen musste.
Foto: privat

Begehrt und geschätzt: die Loni-Mahlein-Medaille, mit der engagierte Gewerkschafter*innen aus
gezeichnet wurden
Foto: Carmen Wolf 

Helen Knorre

»Im Angesicht der Klimakrise können wirtschaftliche und politische Strukturen nicht unhinterfragt bleiben. Unser aktuelles System ist nicht langfristig tragbar, wenn dieser Planet für alle Menschen bewohnbar bleiben soll. Noch immer ist es profitabler, mit fossilen Brennstoffen den Klimawandel zu befeuern als mit erneuerbaren Energien nachhaltige Alternativen zu schaffen. Eine Veränderung der Politik, die sich nicht mehr Konzerninteressen beugt, ist überfällig. Unterschiedliche Gruppen können diese Veränderung fordern: Schüler*innen genauso wie Gewerkschaften und viele mehr. Damit ein gesellschaftlicher und politischer Wandel zum Aufhalten der Klimakrise geschieht, müssen alle mitdenken.«

Oberstufenschülerin, Pressesprecherin von Fridays for Future in Hannover 

Leonhard Mahlein

1921 geboren am 4. April in Nürnberg
1935 Verhaftung des Vaters wegen dessen KPD-Mitgliedschaft und Verurteilung zu 30 Monaten Gefängnis; Loni beginnt eine Buchdruckerlehre, wird vom Lehrherrn in Sippenhaftung genommen und entlassen, findet einen neuen Betrieb
1938 Gesellenprüfung »mit Auszeichnung«, Einberufung zum »Arbeitsdienst«
1940 beschäftigt als Illustrations- und Farbendrucker 1940–1945 Wehrmachtssoldat, mehrfach verwundet
1945 Betriebsratsvorsitzender im alten Lehrbetrieb; Eintritt in die KPD (später Austritt wegen deren Gewerkschaftspolitik)
1957 erstmals Organisation eines Streiks; Eintritt in die SPD
1965 Beginn der hauptamtlichen Tätigkeit
1968 zum Bundesvorsitzenden der IG Druck und Papier (bis 1983) gewählt
1973 die Zeitungsdrucker erkämpfen 10,8 % Lohnerhöhung
1976 IG Druck und Papier fordert Lohnerhöhungen um 10 %; Bundesverband Druck sperrt 15.000 Beschäftigte aus; Abschluss: 6,6 %
1977 Mahleins Initiative: die IG Druck und Papier fordert die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich
1978 nach einem unbefristeten Streik erreicht die IG Druck und Papier gegen Aussperrungen der Unternehmer den RTS-Vertrag (Tarifvertrag über Einführung und Anwendung rechnergesteuerter Textsysteme), um die Folgen neuer Technik für Beschäftigte abzumildern
1984 13-Wochen-Streik in der Druckindustrie für die Einführung der 35-Stunden-Woche
1985 Mahlein erntet heftige Kritik, weil er den Aufruf »40. Jahrestag der Befreiung und des Friedens« unterzeichnet, den die als »kommunistisch« verunglimpfte VVN/BdA (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten) herausgegeben hat
1985  Mai: Gründung der IG Medien
1985 18. Dezember: Tod

Quelle: im Wesentlichen nach: »… verteidigt die Einheitsgewerkschaft!« Leonhard Mahlein. Reden und Aufsätze. Andere über ihn. Frankfurt/Main: Nachrichten-Verlags-GmbH 1986