Leberkäs, Flexi-Streik und vertikale Auslieferung
Es war einer der härtesten und längsten Arbeitskämpfe der IG Druck und Papier, der bis heute andauert: 13 Wochen Streik für die 35-Stunden-Woche vor 40 Jahren
Sommer 1984 vor der Druckerei der Frankfurter Rundschau in Neu-Isenburg. Streikende und viele Unterstützer*innen blockierten die Weiterfahrt des Lkw, der gerade durchs Werkstor vom Hof gerollt war. Beladen mit Springer-Zeitschriften, produziert von Streikbrechern. Der nächste Laster stand schon bereit, ebenfalls randvoll. Eine verzwickte Situation. Vorne die Blockade; hinten auf dem Werksgelände die Streikbrecher; die Geschäftsleitung, im Hintergrund der Axel Springer Verlag. Die Streikleitung verhandelte. Mit dem Ergebnis, dass der erste Laster weiterfahren durfte, sonst aber keiner. Unter dem Beifall der Streikenden entluden die Streikbrecher den Laster auf dem Hof. Und als das blockierte Fahrzeug endlich grünes Licht zur Weiterfahrt erhielt, merkte der Fahrer, dass der zuvor entwendete Schlüssel wieder da und der Laderaum fast leer war. Springers Yellow Press war im Neu-Isenburger Wald entsorgt worden.
Anders als in anderen Orten hat sich der Offenbacher Polizeichef gegenüber den Streikenden – hier vor der Druckerei der Frankfurter Rundschau – korrekt verhalten.
Ein Beispiel dafür, wie die Druckunternehmer manchmal an pfiffigen und mutigen Aktionen gescheitert sind. Der Streik für die 35-Stunden-Woche war kein normaler Arbeitskampf zwischen der IG Druck und Papier (einer der Vor-Vorläufergewerkschaften von ver.di) und dem Unternehmerverband der Druckindustrie. Und erst recht nicht zwischen Gesamtmetall und der IG Metall, die ebenfalls für die 35 in den Arbeitskampf zog. Das offenbarte nicht zuletzt Gesamtmetallchef Dieter Kirchner mit dem oft zitierten Satz: »Lieber vier Wochen Streik als eine Minute Arbeitszeitverkürzung.« Wer setzt sich durch? Wer verfügt über die Zeit der arbeitenden Menschen? In einer nie da gewesenen Massenaussperrung wurden eine halbe Million Metaller*innen vor die Tür gesetzt. Die harte Gangart soll die Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände, der Dachverband der Unternehmer, vorgegeben haben. Heftig unterstützt von der CDU/CSU/FDP-Bundesregierung und von vielen Medien.
Für Rainer Möckel war es »der härteste Streik, den ich erlebt habe.« Und in seinem Berufsleben hat er immerhin sieben Streiks mitgemacht. Möckel, in der Streikleitung der Hamburger Tiefdruckerei Broschek, erlebte, wie neue Technik Arbeit veränderte und immer mehr Menschen ihre Arbeit verloren. Mit jeder neuen breiteren und schnelleren Druckmaschine wurden in immer kürzerer Zeit immer höhere Auflagen gedruckt. In Zahlen: Innerhalb von elf Jahren verlor die Druckindustrie fast 40.000 Beschäftigte. Insgesamt waren damals um die drei Millionen arbeitslos, fast jeder Zehnte.
Darauf musste die Gewerkschaft eine Antwort finden. Arbeiten alle weniger, braucht es mehr Menschen und Arbeitslose kommen wieder in Arbeit. Das war die Idee hinter der 35-Stunden-Woche. Um das zu schaffen, wären im ganzen Land Streiks notwendig gewesen. Das hätte jedoch die Streikkasse der IG Druck und Papier schnell geleert. »Uns war klar, dass wir vor einer gigantischen Auseinandersetzung stehen und langen Atem brauchen«, erzählt Ernst Späth, damals IG-Druck-und-Papier-Sekretär beim Landesbezirk Bayern. »Dafür war eine neue, flexible Streiktaktik nötig. Wir wollten mit minimalem Aufwand maximale Wirkung erzielen.«
Das sah so aus: Kolleg*innen aus ausgewählten Betrieben wurden unangekündigt abteilungs- und stundenweise zum Streik aufgerufen. »Das machte uns unberechenbar und die Gegenseite hatte keine Planungssicherheit. Ausnahmsweise bestimmten wir, wo es langgeht«, erinnert sich Viktor Kalla aus der Streikleitung bei der Frankfurter Rundschau. Die auch »Rein-Raus-Taktik« genannte Art des Streiks erforderte allerdings auch viel Überzeugungsarbeit. »Das haben wir im Großen und Ganzen gut hinbekommen«, findet Christine Bränzel, damals in der Streikleitung der Tiefdruckerei des Springer-Verlags in Ahrensburg. »Aber als ich mir neulich Fotos angeschaut und in müde Gesichter geguckt habe, dachte ich, wir haben unseren Belegschaften mit dieser neuen Taktik auch ganz schön viel zugemutet. Das ist mir damals gar nicht so aufgefallen.«
Lebensgefährlich verletzt
Die erste Streikwelle rollte Mitte Mai an; zwei Tage erschienen vielerorts keine Tageszeitungen. Bei der nächsten Welle gelang es den Großverlegern, mit moderner Produktionstechnik, wenigen Streikbrechern und leitenden Angestellten dünne Ausgaben herzustellen, die sie »Notausgaben« nannten. Oft kam es zu gefährlichen Situationen vorm Tor. Wenn Fahrer, aufgehetzt von der Stimmung gegen die Streikenden, beim Rausfahren extra noch mal Gas gaben und die Menschenketten durchbrachen. Etliche Kollegen wurden zum Teil lebensgefährlich verletzt.
Geld spielte keine Rolle. Die Geschäftsleitung der FAZ ließ den Hubschrauber 20 Mal aufsteigen, um die Zeitung aus der blockierten Druckerei herauszuschaffen.
Bei der Frankfurter Societäts-Druckerei erfolgte die Machtdemonstration nicht mit Gewalt, sondern mit Geld. Ein Hubschrauber flog die »Notausgabe« der Frankfurter Allgemeinen Zeitung aus, was die Verleger als »vertikale Auslieferung« bezeichneten. Die Kolleg*innen empörte besonders, dass Wochen zuvor nach einem schweren Arbeitsunfall einem Rettungshubschrauber die Landung aus Sicherheitsgründen verwehrt worden war. »Mit dem Hubschraubereinsatz«, sagt Viktor Kalla, »wollten die Verleger unsere Moral untergraben.« Bei all dem Gegenwind erlebten die Streikenden auch viel Solidarität. Bäcker brachten Brötchen und Metzger Wurst, Kolleg*innen anderer Gewerkschaften solidarisierten sich. An Theatern unterbrachen Ensembles Vorstellungen und verlasen Solidaritätsschreiben. Udo Lindenberg, BAP, die Rodgau Monotones und weitere Künstler*innen gaben in der Frankfurter Festhalle ein Solidaritätskonzert. Selbst Pfarrer überließen Vertrauensleuten ihre Kanzel, damit sie über den Grund des Streiks informieren konnten.
Besser als die IG Metall
Die IG Metall stimmte schließlich nach sechswöchigem Streik dem Schlichterspruch von Georg Leber (einst Vorsitzender der Gewerkschaft IG Bau-Steine-Erden) zu, wonach sich die Arbeitszeit zunächst auf 38,5 Stunden verkürzte. Allerdings nicht flächendeckend für alle, sondern nur durch Betriebsvereinbarungen umsetzbar.
Für die IG Druck und Papier war das, was schnell als »Leberkäs« bezeichnet wurde, keine Option. Ihr Streik endete Mitte Juli nach 13 Wochen (und finanzieller Unterstützung des DGB). Und erst nachdem der Schlichter Kurt Biedenkopf (einst Generalsekretär der CDU) einen Stufenplan zur Umsetzung der 35-Stunden-Woche vorgelegt hatte, die mit »38,5 Stunden für alle« beginnen sollte, wie Erwin Ferlemann betonte. Doch der IG-Druck-und-Papier-Vorsitzende warnte auch: »Die Unternehmer haben ihr Ziel, eine absolute Flexibilisierung der Arbeitszeit, nicht aufgegeben.«
Bis heute nicht. Mit jeder Auseinandersetzung um den Manteltarifvertrag packen die Druckunternehmer die Verlängerung der Arbeitszeit auf den Tisch. Dabei wäre eine weitere Arbeitszeitverkürzung dringend nötig. Die Zahl der Betriebe wird kleiner, die Arbeit nimmt ab. Mit kürzerer Arbeitszeit (ohne Lohnverlust) ließe sich die Arbeit besser verteilen.
Die 4-Tage-Woche oder 32-Stunden- Woche, wie sie die IG Metall in der Stahl- industrie gefordert und zu der sie den Einstieg geschafft hat, ist auch Thema in den Druckbetrieben. »Weil die Kollegen aber für kurzfristig zu erledigende Aufträge zur Stelle sein müssen«, wie Christian Clement, der Betriebsratsvorsitzende bei CPI Ebner & Spiegel in Ulm, sagt, »geht es ihnen vielmehr um planbare Freizeit und menschenwürdige Schichten.«