Historisches

Weg war die 40!

Vor 25 Jahren galt in der westdeutschen Druckindustrie erstmals die 35-Stunden-Woche | Kürzere Arbeitszeit wurde in Etappen erkämpft

Der 1. April 1995 ist in die Geschichte der Arbeiterbewegung eingegangen: Erstmals galt die 35-Stunden-Woche in den westdeutschen Druckbetrieben. »Ich kann mich noch an das erhabene Gefühl erinnern, als ich zur Arbeit ging«, erzählt ein Beteiligter. »Das hatten wir erreicht! Wir hatten die 35-Stunden-Woche erstreikt!« Auch wenn sie lange darauf warten mussten. Elf Jahre hat es gedauert – vom Arbeitskampf 1984 bis zum Inkrafttreten 1995. Das Ziel, die 35-Stunden-Woche, hat die IG Druck und Papier (später IG Medien) Etappe für Etappe erkämpft. »Das ging nur mit langem Atem«, sagt einer, der dabei war. »Wir hatten 1984 in einer wirklich harten Auseinandersetzung den Einstieg in die 35-Stunden-Woche erreicht. Das wollten wir auch vollenden.« 1995 war es geschafft – vor 25 Jahren. Für Furore hat allerdings der Kampf 1984 gesorgt. Es ist Juni. Die IG Metall wird nach sieben Wochen ihren Arbeitskampf mit einer Schlichtung beenden. Die IG Druck und Papier steckt noch mittendrin.

Aufgeheizte Stimmung

Streikende des Druck- und Verlagshauses Frankfurt versperren einem Lkw den Weg. Seine Ladung: Notausgaben von Springer-Zeitschriften. Produziert von Streikbrechern. Die Polizei versucht vergeblich, die Streikenden abzudrängen. Die Menschen blockieren den Weg, der Lkw kommt nicht vorwärts. Als der Laster viele Stunden später seine Ware ausliefern kann, ist der Laderaum fast leer. Streiksympathisanten hatten die Notausgaben im Wald entsorgt.

Nicht immer verlief es so glimpflich. Die Stimmung ist aufgeheizt. Der Stuttgarter Bezirksvorsitzende der IG Druck und Papier, Horst Bekel, wurde am 18. Mai 1984 mehrmals von einem Lkw überfahren und lebensgefährlich verletzt. Der Verlagsleiter der Lüdenscheider Nachrichten raste auf Streikposten zu. Auch in Offenbach gab es Verletzte.

Der Kampf um die 35-Stunden-Woche war mehr als ein normaler Arbeitskampf zwischen Gewerkschaften und Unternehmerverbänden sowie zwischen Belegschaften und Verlegern, die alles Mögliche unternahmen, um die Streiks zu unterlaufen. Sie ließen Streikbrecher im Kofferraum in den Betrieb bringen, setzten Polizei gegen Streikende ein oder ließen eine Notausgabe (vier Seiten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung) mit dem Hubschrauber ausfliegen.

Die Arbeit besser verteilen

Der Arbeitskampf wurde eine gesellschaftspolitische Auseinandersetzung. Die CDU/CSU-FDP-Bundesregierung hatte sich auf die Seite des Kapitals geschlagen, unterstützt von den Medien der Großverleger. Doch die IG Metall und die IG Druck und Papier konterten mit einer gut vorbereiteten Kampagne für die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich. Begleitet von Solidaritätsstreiks, unterstützt aus der Kunst, der Wissenschaft, den Kirchen.

1984 war der Beginn der schwarz-gelben Koalition unter Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU): drei Millionen Arbeitslose, sinkende Reallöhne und steigende Unternehmergewinne. Mit weniger Menschen wurde mehr produziert. Durch neue Technologien verringerte sich allein in der Druckindustrie die Zahl der Beschäftigten von mehr als 200.000 auf 165.000 innerhalb von zehn Jahren. Es drohten mehr und mehr arbeitslos zu werden. Die Antwort der Gewerkschaften: Arbeitszeitverkürzung, damit die Arbeit auf mehr Menschen verteilt wird. Die 35-Stunden-Woche sollte Arbeitsplätze sichern und neue schaffen. Kürzer arbeiten sollte auch ein Mittel gegen Stress und vorzeitigen Verschleiß der Arbeitskraft sein.

Am 2. Juli 1984 war der Arbeitskampf zu Ende, die 40-Stunden-Woche war Geschichte und die 38,5 in Sicht. »Als endlich die befreiende Nachricht nach den endlosen Verhandlungen und vielen Streiktagen kam, ist eine riesige Last von uns gefallen. Das Ziel war hart erkämpft und musste gefeiert werden«, erinnert sich Thomas Dörr, damals 23 Jahre und Schriftsetzer bei der Rhein-Zeitung, heute Betriebsratsvorsitzender der Görres-Druckerei in Neuwied. Seitdem haben die Beschäftigten der Druckindustrie ihre 35-Stunden-Woche wieder und wieder verteidigt.

Zahlen & Fakten

13 Wochen lang dauerte der Arbeitskampf in der Druckindustrie. Damit die Arbeitszeit für jeden Beschäftigten und nicht nur im Durchschnitt des einzelnen Betriebs verkürzt wird wie in der Metall- und Elektroindustrie, streikten die Belegschaften der Druckbetriebe zwei Wochen länger. Unterstützt wurden sie mit 15 Millionen DM aus einem Solidaritätsfonds des DGB. Insgesamt hatten sich 604 Betriebe an der Tarifauseinandersetzung beteiligt, davon 563 Betriebe mit 56.000 Beschäftigten an Streiks.