Zusteller zahlen die Zeche
Angesichts sinkender Auflagen versuchen Unternehmen in der Zeitungszustellung, neue Geschäftsfelder zu erschließen – auf Kosten der Beschäftigten
Morgens, Viertel nach fünf vor einem Berliner Mietshaus. Dutzende Briefkästen reihen sich aneinander. Die Augen von Björn Kaczmarek* huschen von links nach rechts und wieder zurück. Seit vielen Jahren arbeitet der 38-Jährige als Zeitungszusteller. Er hat Routine. Doch heute ist »Katalogtag«. Schon wieder findet er einen Namen nicht. »Kann doch nicht wahr sein«, murmelt er vor sich hin. Noch mal von vorn. Vielleicht gibt es die Adresse auf dem Etikett der TV Today ja doch. Womöglich bei den Briefkästen im anderen Eingang. Fehlanzeige. Ein Etikett auf die Zeitschrift, »Empfänger unbekannt« angekreuzt und zurück in den blauen Zustellwagen. Jetzt aber schnell weiter, er ist schon spät dran. Schon das Vorsortieren der adressierten Zeitschriften – an seinem Ablagepunkt in einem Hausflur – hat einiges an Zeit gefressen. Spätestens um sechs Uhr müssen alle Zeitungen und Zeitschriften im richtigen Briefkasten liegen.
Björn arbeitet für eine der Agenturen, die im Auftrag der Berliner Zustell- und Vertriebsgesellschaft (BZV) Tageszeitungen austrägt. Zusätzlich zu Tagesspiegel, Morgenpost und Co. müssen er und seine Kolleg/innen zurzeit zwei Mal in der Woche adressierte Abozeitschriften zustellen. Seit der Umstellung von Stück- auf Stundenlohn gibt es dafür kein Extra-Geld. Das Stecken der Magazine sei Teil der für die Touren veranschlagten Arbeitszeit, heißt es. Doch für die Zusteller bedeutet das wesentlich mehr Aufwand und Stress. Während sie bei Tageszeitungen irgendeine der richtigen Sorte aus dem Stapel ziehen können, sind die einzelnen Journale für eine konkrete Adresse bestimmt. Das erfordert einen ganz anderen Aufwand, schon beim Vorsortieren.
Arbeitsbedingungen leiden
»Die Infrastruktur der Zeitungs-Zustellagenturen ist für so was eigentlich gar nicht ausgelegt«, sagt Björn. Viele Zeitungsboten müssten die Ware in irgendwelchen Hauseingängen sortieren. Die Wagen seien nicht für adressierte Post konzipiert. Und bei Zeitschriften, die nur sporadisch zugestellt werden, müsse man häufig neu nach den richtigen Briefkästen suchen. »Noch schlimmer sind Kataloge und andere adressierte Werbung; da sind die Adressen ganz oft falsch«, berichtet Björn. In Berlin werden diese von den BZV-Agenturen derzeit nicht ausgeliefert. Wegen des Mindestlohns. Denn würden die Unternehmen auch reine Werbeprospekte und Kataloge zustellen, müssten sie ihren Beschäftigten den vollen Mindestlohn von aktuell 8,50 Euro pro Stunde bezahlen. »Bei uns befürchten viele, dass wir demnächst auch wieder diese ganzen Werbekataloge austragen müssen – spätestens bei Auslaufen der Sonderregelung für Zusteller.«
Denn die Zustellgesellschaften werden von ihren Eigentümern, den Verlagen, finanziell meist an der kurzen Leine gehalten. Sinkende Auflagen machen ihnen zu schaffen, da die Wege weiter werden, die Verteilung des Einzelexemplars aufwendiger. Anders als früher beim Stücklohn kann der Mehraufwand nicht mehr vollständig auf die Beschäftigten abgewälzt werden. Die Unternehmen reagieren darauf mit dem Versuch, neue Geschäftsfelder zu erschließen – wie die Verteilung von Zeitschriften und Werbeprospekten. Mit der Folge, dass die Arbeitsbedingungen der Zusteller noch härter werden.
Zuschläge gekürzt
Zugleich tricksen viele Firmen beim Mindestlohn. Björn zeigt einen Zettel. »Änderungsvereinbarung zum Arbeitsvertrag« steht oben drauf. Unter »Punkt 1. Grundvergütung« ist zu sehen, wie sich der Brutto-Stundenlohn entwickeln wird: von 6,38 Euro 2015 auf 7,23 Euro in diesem und 8,50 Euro im nächsten Jahr. So weit, so korrekt. Doch daneben steht, wie sich die abzugsfreien Nacht- und Sonntagszuschläge verändern: Statt wie noch im vergangenen Jahr 50 und jetzt 35 Prozent gibt es sonntags ab 2017 nur noch 20 Prozent. Nachts sinkt der Zuschlag von 25 auf 15 Prozent. Die Folge: Obwohl der Zusteller-Mindestlohn nach und nach auf die allgemeine Lohnuntergrenze angehoben wird, haben die Boten am Ende kaum mehr im Portemonnaie.
Zusteller haben einen harten Job mit regelmäßiger Nachtarbeit und oft schlechter Bezahlung.
Das Grundproblem ist, dass es in den wenigsten Zustellgesellschaften Tarifverträge gibt. So auch in Berlin. Betriebsräte sind ebenfalls die Ausnahme. Deshalb muss jeder Zeitungsbote seine Bedingungen individuell aushandeln. Zum Teil würden einseitig die Nacht- und Sonntagszuschläge gekürzt oder Beschäftigte dazu veranlasst, neue Arbeitsverträge mit wesentlich geringeren Zuschlägen zu unterschreiben, berichtet ver.di-Sekretär Alfons Paus. Dabei habe das Bundesarbeitsgericht im vergangenen Jahr entschieden, dass bei Nachtarbeit Zuschläge von mindestens 25 Prozent, für Dauernachtarbeit von 30 Prozent angemessen sind (BAG 10 AZR 423/14 vom 9.12.2015). Ändern werde sich nur etwas, wenn sich genügend Kolleginnen und Kollegen gewerkschaftlich organisieren, ist Paus überzeugt. »Sonst wird der finanzielle Druck der Verlage immer an die Zusteller weitergereicht, weil sie das schwächste Glied in der Kette sind.«
*Name von der Redaktion geändert
ver.di-Seminar für Betriebsräte aus Zustellbetrieben vom 6. bis 11. November in Gladenbach: www.bit.ly/SemZust
Auflagenrückgänge der Berliner Tageszeitungen
Quelle: IVW
Die Berliner Tageszeitungen haben seit 2009 durchschnittlich fast ein Drittel ihrer Auflagen verloren. Das macht auch der von den drei konkurrierenden Verlagen gemeinsam getragenen Zustellgesellschaft BZV zu schaffen, die seit 2012 rote Zahlen schreibt.* Über ihre Agenturen sind nach eigenen Angaben rund 1.800 Zustellerinnen und Zusteller für die BZV tätig. Sie liefern täglich 300.000 Tageszeitungen und jede Woche drei Millionen Anzeigenblätter aus.
* Zahlen liegen bis 2013 vor
An die Redaktion
zu DRUCK+PAPIER 3.2016, Seite 11
Zuerst wurden wir Zeitungsausträger dahingehend vertröstet, ab dem Jahr 2017 endlich den vollen gesetzlichen Mindestlohn zu bekommen. Nun habe ich aktuell zur Kenntnis genommen, dass Zeitungszusteller auch im Jahr 2017 mit dann 8,50 Euro brutto pro Stunde noch immer keinen vollen gesetzlichen Mindestlohn erhalten werden, der ab 1. Januar 2017 gemäß dem kürzlich erfolgten Beschluss der Mindestlohnkommission offiziell 8,84 Euro brutto pro Stunde beträgt.
Tragen auch hierfür wieder Herr Schäuble & Co. die lobbypolitische Verantwortung? Oder hat diesmal ver.di in entscheidenden Gesprächen bzw. Verhandlungen zu wenig Rückgrat bewiesen? Diese wiederholte Entgeltbenachteiligung ist in jedem Fall eine überdeutliche Missachtung der in diesem bei Nacht, Wind und Wetter auszuübenden sowie körperlich anstrengenden Beruf zu erbringenden Arbeitsleistung.
Dass es mir angesichts dieser Gegebenheiten mittlerweile äußerst schwerfällt, Arbeitskolleg/innen von den Vorteilen einer Gewerkschaftsmitgliedschaft zu überzeugen, brauche ich an dieser Stelle wohl nicht weiter zu begründen.
Damit nicht nur die Kolleg/innen innerhalb des ver.di-Fachbereiches 8, sondern sämtliche Tageszeitungsabonnent/innen innerhalb von ver.di erfahren, was den Zeitungsverlagen trotz regelmäßig steigender Abopreise die bei Nacht, Wind und Wetter stets verlässliche, körperlich anstrengende Arbeit ihrer Zustel
ler/innen real wert ist, gehört der betreffende Artikel alsbald in den Hauptteil der ver.di Publik. Vielleicht führt dies zu einem größeren gewerkschaftlichen Widerstand als bisher, den die Zeitungsverlage nicht mehr so einfach ignorieren können.
Elgin Fischbach, Leimen
Anmerkung der Redaktion:
Die Benachteiligung der Zeitungszusteller bis Ende 2017 war bereits Teil des Mindestlohngesetzes vom 11. August 2014. ver.di hat gegen diese und andere Ausnahmen vom Mindestlohn energisch Widerstand geleistet und Proteste organisiert.