Die automatisierte Fabrik
Wie eine kleine Druckerei die Krise der Branche überlebt

Wer macht all die Produkte? Wer erfindet und produziert sie? Wer wagt, was andere nicht wagen? DRUCK+PAPIER geht hin und fragt nach.
Über die Ideen des Chefs lächelten viele: die Fachpresse, die Konkurrenz und der Unternehmerverband. Wie hat diese kleine Firma die Krise überstanden, während sich die Zahl der Betriebe in der Druckindustrie halbierte?
Wie Mail die Zigarre rettete – so könnte die Geschichte über Stefan Mail und seine Etikettendruckerei in Bünde begonnen werden. Oder wie er seine Kunden um Geld anpumpte, obwohl seine Erfindung damals nur eine Idee war.
Viel Land, viel Sicht: Der Firmensitz von Mail Druck + Medien liegt im ostwestfälischen Bünde zwischen Äckern und Wohnsiedlungen. Außen schlicht, innen digitalisiert und automatisiert.
Ob Papier aus Stein, Gras oder landwirtschaftlichen Abfällen – das Etikett soll aus nachwachsenden Rohstoffen bestehen.

Die Papierrolle wird vorne von Hand eingespannt und hinten abgeschnitten. Alle Arbeitsschritte dazwischen laufen automatisch. Die Laserschneidanlage erkennt den Code des neuen Auftrags. Vor allem stellen sich die Parameter neu für das nächste Material ein und damit ändert sich auch das Tempo der Maschine. Bei Hanfpapier läuft der Laser beispielsweise langsamer. Die Längsmesser stellen sich automatisch um. Durch die Sichtfenster leuchtet der Laser für Sekunden auf. Erst tastet er die hintere Bahn ab, dann die vordere. Größe, Form, Farbe – das erste Etikett ist perfekt. Jedes Mal.
60 Sekunden später ist der Auftrag erledigt: 100 Kaffee-Etiketten, geschnitten auf einer neun Meter langen Rolle. »Früher hätte ich 30 Minuten gebraucht, um die Maschine einzustellen«, sagt Produktionsleiter Hartwig Holtkamp. Kein Ausschuss, kein Rüsten – er klingt immer noch beeindruckt, selbst 17 Jahre nach der ersten Inbetriebnahme. »Ich habe die Maschine mitentwickelt.«
Stanzen ohne Stanzwerkzeug
Fast zwei Jahrzehnte zurück. Als Schockbilder eingeführt wurden, geriet die Tabakindustrie in Schwierigkeiten. Zerfressene Lungen, abgestorbene Beine, Zungenkrebs – solche Warnhinweise sollten auf Zigaretten- und Zigarrenverpackungen angebracht werden. Die EU hoffte, damit mehr Menschen vom Rauchen abzuhalten. Doch wie sollte das umgesetzt werden?
Sollte für jede Kabinettkiste mit Schiebedeckel in Miniauflage ein Etikett in der jeweiligen Landessprache mit speziellem Hinweis produziert werden? Für jede Sorte wäre ein eigenes Stanzwerkzeug nötig gewesen. Bei solch kleinen Auflagen wäre die Produktion für die Kundschaft unerschwinglich geworden.
Das Ende vieler Zigarren drohte – ausgerechnet in Bünde, dem historischen Zentrum der deutschen Tabakverarbeitung, wo seit dem 19. Jahrhundert die Zigarrenindustrie ansässig ist und bis heute die Zentrale Steuerzeichenstelle sitzt.
Mail suchte eine Lösung für seine Kunden aus der Tabakwarenindustrie. Seine Idee: digitaler Druck für Rollen-Haftetiketten – auch für kleine Mengen, ohne aufwendiges Einrichten und teure Werkzeuge. So eine Anlage musste nur einer bauen. Was Mail außerdem fehlte, war Kapital. Also schlug er seinen Kunden ein Geschäft vor: Ihr schießt mir Geld vor, ich löse euer Etikettenproblem. Ein Zigarrenhersteller zahlte ihm 150.000 Euro. »Ich habe meinen Kunden«, er überlegt kurz, »nicht direkt eine Lösung versprochen.«
Denn die schien weit weg. Mail reiste zu Herstellern in Italien, Großbritannien und zu US-amerikanischen Firmen. Laserstanzen gab es längst in anderen Branchen. Doch beim Papier versagte die Technik. Der Laser verbrannte das filigrane Papier oder hinterließ Schmauchspuren.

Familienbetrieb in vierter Generation: Stefan Mail, Druckformhersteller, Industriekaufmann, mit betriebswirtschaftlichem Abschluss, ist Sachverständiger für die Berufe der Druck- und Medienbranche, im Beirat des Unternehmerverbandes Druck und Medien Nord-West sowie Vorsitzender im ZFA (Zentral-Fachausschuss Druck und Medien) für die Arbeitgeber.
Sammelbahn erfunden
Schließlich fand er einen Maschinenhersteller ganz in der Nähe in Ostwestfalen. Der tüftelte zwei Jahre an einer Lösung, bis im Juni 2008 die erste Laserschneidanlage startete. Heute stehen drei in der Halle. Mail ließ sich das Verfahren patentieren. Allein von einem Kunden sind im Computer 20.000 Datensätze gespeichert – für Etiketten auf unterschiedlichen Verpackungen in verschiedenen Sprachen und mit anderen Hinweisen. Im herkömmlichen Stanzverfahren hätte Mail dafür 400 bis 500 teure Stanzformen gebraucht.
Eine Laserschneidanlage macht allein noch keine profitable Fabrik. »Wenn ich für 100 Etiketten anderthalb Stunden brauche, ist das Produkt nicht verkäuflich.« Seine Idee: alles automatisieren – vom Auftragseingang bis zum Versand. Doch selbst große Firmen, die Automatisierung für Druckereien anboten, überzeugten Mail nicht. »Die verbessern nur Abläufe, verstehen aber nichts von Automatisierung.« Wie sagte einer: »Ist ja toll, was Sie sich ausdenken. Aber das braucht doch keiner.«
Schließlich fand er einen Softwarehersteller. Der Anfang war vielversprechend, doch dann stockte das Projekt und musste abgebrochen werden. Drei Jahre Arbeit waren umsonst.
Schließlich traf er auf vier Programmierer aus der Region. Schritt für Schritt erklärte er ihnen seine Vision: eine Sammelbahn, auf der Etiketten mit verschiedenen Größen, Formen und Abständen nebeneinanderstehen – Ergänzungsfuttermittel für Pferde neben Eine-Welt-Schildern und Pralinen. Was simpel für den Bogendruck ist, stellte sich als kompliziert für die Rolle heraus. Ein Kunde braucht 100 Etiketten, der andere 50.000. Solche Mengen sind manuell nicht zu steuern.
Dann die Lösung: Algorithmen automatisieren stattdessen die Produktionsplanung: Sie entscheiden selbstständig, welche Etiketten mit welchem Material und zu welchem Termin auf die Rolle kommen. Das wurde der Durchbruch. 2019 war die Sammelbahn in Betrieb.
Die Automatisierung hat keinen Arbeitsplatz gekostet. Bis auf einen Quereinsteiger haben alle Beschäftigten einen branchenspezifischen Beruf. Drei junge Leute lernen gerade Medientechnologe Druck, ein vierter steht vor der Abschlussprüfung.

Azubis zu finden sei kein Problem, sagt Mail. »Unsere Auszubildenden machen selbst die beste Werbung.« Der nächste Azubi für August ist bereits gefunden.
Betriebsrat und Tarifverträge gibt es bei Mail Druck + Medien nicht. Statt Urlaubsgeld und Jahresleistung werden erfolgsabhängige Boni und Prämien für Beschäftigte mit weniger als drei Krankheitstagen pro Quartal gezahlt. Dass Menschen trotz Krankheit zur Arbeit kommen, um das Geld nicht zu verlieren, das gebe es nicht, versichert Mail.
Heute schaffen zwei Druckmaschinen sämtliche Aufträge – von kleinen Mengen mit zehn Etiketten bis zu Großaufträgen mit zwei Millionen Stück. Statt 4.500 Aufträge wie früher erledigt die Druckerei heute fast 80.000 Aufträge jährlich.
Mail verdient sein Geld mit Etiketten: raffinierten und kunstvollen oder solchen mit dem Charme eines Gummibaums: Mindesthaltbarkeitsdatum, Gefahrenhinweise, Textilpflegesymbole. Je mehr Codes und Kennzeichnungen der Gesetzgeber vorschreibt, desto mehr Aufträge erhält die Etikettendruckerei. Er profitiert von der zunehmenden Bürokratie.
Raus aus dem Offset
Die Krise der Druckindustrie, die seit 25 Jahren dauert, hätte auch sein Unternehmen ruinieren können – wie so viele andere. Im Jahr 2000 existierten noch 14.000 Druck- und Medienbetriebe mit 200.000 Beschäftigten. Heute ist davon nur noch die Hälfte übrig.
Unter den vielen Ursachen für die Krise gab es auch eine hausgemachte: Überkapazitäten. Zahlreiche Druckereien kauften große Offset-Maschinen, konkurrierten um dieselben Aufträge und unterboten sich bei den Preisen. Gegen Branchenriesen wie Mohn Media konnte Mail nicht bestehen. 2014 gab er den klassischen Bogen- und Offsetdruck auf und konzentrierte sich ganz auf Etiketten. Heute lächelt keiner mehr über ihn, stattdessen kopieren Konkurrenten seine Ideen. Was brachte den Durchbruch? »Er ist visionär und leidenschaftlich in dem, was er tut«, sagt seine Frau und Mit-Geschäftsführerin Cornelia Mail. Und er bleibt nicht stehen. Schon länger setzt die Etikettendruckerei auf umweltfreundliche Materialien: Steinpapier für Kosmetikprodukte, Stroh, Gras, Bambus, ebenso wie auf lebensmittelverträgliche Druckfarben. Sein nächstes Projekt: digitale Veredelung. Ohne Werkzeuge, voll automatisiert, recycelbar. Noch tüftelt er.