Von heizenden Tapeten, Inspirationen und der neuen Wundermaschine
Schillernde Künstler*innen, eine patente Belegschaft, ein Chef wie Daniel Düsentrieb – alles da für den Erfolg. Aber die Umsätze brechen ein und die Aufträge bleiben aus. Was hält die Marburger Tapetenfabrik am Leben?

Warum funktioniert das jetzt nicht? Er hastet ans andere Ende der Wand und wieder zurück. Redet auf die Wand ein. Was ist da los? Fummelt am Kästchen, findet schließlich den Schalter. Die linke Hand flach an die kühle Fliese gedrückt – Stein wäre noch kühler! Die rechte gleitet über das Tapetenblau. Jetzt aber! Jetzt! Wärme strömt aus der Wand. Es funktioniert!
Wer macht all die Produkte? Wer erfindet sie und wer produziert sie? Puzzle, Bücher, Tapeten und den Karton fürs Parfüm – kreiert, bedruckt, verpackt. DRUCK+PAPIER besucht die Betriebe.
Ullrich Eitels neueste Erfindung: die Heiztapete. Sie soll jede herkömmliche Heizung in der Wohnung ersetzen. In zehn Jahren, so prophezeit er, wird niemand mehr Heizkörper, Fußbodenheizungen und Abgasmessungen benötigen. Das Prinzip ist einfach: Auf eine Vliestapete kommen zwei elektrische Leiter, darüber Strom leitende Paste. Die schwarze Schicht verschwindet unter dem Wunsch-Dessin und macht die Stromleitung unsichtbar. Sechs Bahnen reichen, um ein Wohnzimmer zu heizen. »Die Heiztapete schafft den Durchbruch.« Davon ist er überzeugt.
Die Tapetenindustrie kriselt leise. Nicht mit einem Röhren wie die Autoindustrie. Erst verschwinden die Tapeten aus Schlaf- und Kinderzimmern, dann die Fachgeschäfte mit den Verkäufer*innen, die noch einen geraden von einem versetzten Ansatz unterscheiden konnten. Dann die Tapetenfabriken. Oder umgekehrt. Nach dem Zweiten Weltkrieg zählte Deutschland 36 Tapetenproduzenten, heute sind es vier, inklusive der Marburger. Was hat sie, was kein anderer hat?

Firmenchef Ullrich Eitel, der immer wieder was Neues erfindet: »Meine DNA ist es, Tapeten weiterzuentwickeln.«
Tapeten gehen den gleichen Weg wie Kloschüsseln und Toaster. Auf Paletten in Baumärkten gestapelt oder als Bestellnummer im Internet bei billigerluxus, hammer-zuhause, Schlau Großhandel, klicken und liefern. Zwischen Holzlasur und Spachtelmasse bieten sich auch die Marburger an. Eine gute Lösung ist das nicht, denn Baumärkten und Websites fehlt es an Begeisterung und Tapetenkunde. Mehr als ein Drittel weniger Tapeten hat die Marburger Tapetenfabrik in den vergangenen vier Jahren in Deutschland verkauft. Die Gründe: Das Gas ist teuer, der Strom ist teuer. Viel zu wenige Neubauten. Viel zu hohe Mieten. »Das schnürt den Menschen den Hals zu«, sagt Ullrich Eitel.
Und: »Die Kriege auf der Welt müssen aufhören.« Bis vor ein paar Jahren ging jede dritte Tapete aus Kirchhain – hier ist die Marburger Tapetenfabrik zu Hause – nach Russland, Belarus, in die Ukraine und all die Länder, in denen Opulent-Barockes an der Wand geschätzt wird. Tapeten sind von den Sanktionen gegen den Angreifer Russland nicht betroffen, aber wer nur mittelreich ist, hat zurzeit nichts übrig für Tapeten aus Deutschland. Ist der Krieg in der Ukraine vorbei, wird das Land wieder aufgebaut. Aufbau heißt Häuser. Häuser brauchen Tapeten.

Von allen für ihr gutes Auge bewundert: Farbmischer setzen Nachschub an, der perfekt passt.
5.000 verschiedene Tapeten, 180 Jahre Firmengeschichte, 100 Prozent made in Germany – die aufschlussreicheren Zahlen finden sich in der Halle der Tapetenfabrik. Von neun Druckmaschinen laufen nur ein paar. In einer Halle macht allein das Gebläse Lärm. »Manchmal wird uns himmelangst«, sagt ein Drucker. Die Preise, die Kriege. Ein Tiefpunkt. An manchen Tagen hilft er in der Technik aus, weil im Drucksaal nichts zu tun ist. Der ist so sauber wie nie.
Innerhalb von zehn Jahren schrumpfte die Belegschaft um 100 Leute, er ist jetzt einer von den übrig gebliebenen 270. Man mache sich Gedanken, sagt er. Der Tarifvertrag, der Standort und Arbeitsplätze garantierte, ist ausgelaufen; das Unternehmen ist raus aus dem Flächentarif und in einen Haustarif, der Tapeten-Unternehmerverband hat sich aufgelöst. »Aber es ist noch immer gut gegangen.«
Für Firmenchef Eitel, den Maschinenbauingenieur, Schwerpunkt Drucktechnik, ist eine Tapete mehr als ein Wandkleid. Sie ist eine Hülle für Technik und vieles davon hat er sich ausgedacht. Tapeten, die vor Elektrosmog schützen, Raumluft reinigen, Wärme reflektieren, Keime töten, mit Dutzenden Leuchtdioden strahlen. Nicht alles läuft so, wie Eitel hofft. Frustrierend sei das. Ist nun mal so. Manche Ideen scheitern, andere nicht. »Meine DNA ist es, Tapeten weiterzuentwickeln.«
Nicht zu durchgeknallt
Aufgeben? Kommt nicht in Frage. So wie Rasch. Die Tapetenfabrik in Bramsche war ebenfalls ein inhabergeführtes Familienunternehmen, bis die Brüder ihre Firma im vergangenen Jahr an Europas Marktführer Wallhouse Fashion verkauften. Man muss nicht groß sein, um zu bestehen, findet Eitel. Lieber an die nächste Generation vererben.
Die sechste. Voriges Jahr hat er die Geschäftsführung an den Sohn übergeben. Seitdem ist der Chef mit seinen 77 Jahren nur noch an drei statt an fünf Tagen im Betrieb. Die beiden Töchter hat er mit der Leitung von Personal und Musterkartenbuch versorgt.
Im Atelier schaut Hilde von oben zu. Das Porträt von Mutter Eitel hat Felix Diener gefunden und auf dem Schrank platziert. Vater Eitel war der Ingenieur, Mutter Hilde die Kunstliebhaberin mit Sinn für das Schöne und Kontakt zu den Künstler*innen, die Marburger Tapeten präsentierten, wie Janosch, Niki de Saint Phalle, Glööckler und – ganz neu – Topmodel Papis Loveday.
In der Künstlergalerie der Fabrik hängt auch das Porträt von Felix Diener, Raumausstatter, Textilingenieur und -designer, Kreativdirektor und Herrscher übers Atelier (beschützt von Hilde). Ausgezeichnet mit einem Designpreis für seine Kollektion. Kein Haar auf dem Kopf, schwarzer Rolli, schwarze Hose, schwarzes Jackett. »Lenkt nicht ab vom Dessin.«
Ja, wie kommt man auf Ideen. Hat er das wirklich mal gesagt, dass ihm Ideen unter der Dusche kommen? »Der Kopf füttert sich mit allem, was man sieht.« Museum, Mode, Möbel, am besten hochpreisige italienische, die seien nah am Zeitgeist.
Für Felix Diener ist die Tapete Raffinesse, Experiment, Haptik, die gelungene Balance von etwas Neuem, aber nicht so durchgeknallt, dass der Großhandel abwinkt.
Er zieht das Moodboard hervor, so etwas wie eine Stimmungstafel zum Ideenfinden, beklebt mit Fotos, Magazinausschnitten: Kohlblätter an Ohren, Farne, Moos. Grün in allen Schattierungen. Trend: natürlich.
Daneben liegt eine Tapetenrolle in blassen Farben, zuckerwatterosa, zitronen- eisgelb, winterhimmelblau. Eine Fehlproduktion. Da hatte sich die Maschine vertan. Diener legt die Rolle zur Seite. Vielleicht lässt sich noch was daraus machen. Es wäre nicht das erste Zufallsprodukt, das zu einer guten Idee führt.
Die Hoffnung kostete um die acht Millionen Euro. So mächtig, dass für sie das Dach angehoben werden musste. Und so empfindsam, dass das Fundament auf einen Meter Dicke verstärkt wurde, um winzigste Vibrationen zu vermeiden. Noch programmieren die Fachkräfte vom englischen Hersteller, aber bald soll sie an den Start gehen. Die hybride Digitaldruckmaschine schafft 4,3 Milliarden Tropfen pro Sekunde. Pro Sekunde! 4,3 Milliarden! 94 Druckköpfe! Jeder von einem eigenen Computer angesteuert! Eitel glaubt an die hybride Neue. »Wer nicht investiert, verliert den Anschluss.«
Die Wundermaschine spart Geld: weniger Siebe, keine Druckwalzen mehr, kein Bereitstellen von Farben, kein Waschen von Farbwannen, kein Zwischenlagern, kein Aufziehen von Zahnrädern. Weniger Material, weniger Zeit, weniger Farbmischer.
Tapete on demand
Man stelle sich vor: Urlaub, Strand, Sonnenuntergang – das perfekte Foto. Fix hochladen, die Maße der Wohnzimmerwand eingeben, senden. Der Auftrag geht bei der Marburger Tapetenfabrik ein, die lädt den Job, bringt die Maschine auf Geschwindigkeit. Nach wenigen Minuten ist die Fototapete gedruckt, in Zellophan verpackt, in Karton gesteckt, verschickt. Am übernächsten Tag ist der Sonnenuntergang zu Hause eingezogen. Der Drucker staunt, was mit der Maschine alles möglich ist. Losgröße eins, Tapete on demand. Wie im Buchdruck. Kleinste Aufträge, keine Rüstzeiten.
Die einen glauben an die Hybride und die Heiztapete, die anderen hoffen auf Frieden und Aufschwung – Hauptsache, es geht noch einmal gut.