Zeiten kappen, Lohn kürzen
Wie die Nordsee-Zeitung Zeitungszusteller*innen unter Druck setzt | Antwort aus dem Bundesarbeitsministerium
Wie viele Kilometer schafft ein Erwachsener pro Stunde im Schritttempo? Und nun die gleiche Strecke mit einer beladenen Karre. Tasche öffnen, Zeitungen rausnehmen, Schlüssel suchen, Haustür öffnen, Zeitung einstecken. Drei Kilometer pro Stunde seien durchschnittlich zu schaffen, mehr nicht, sagt der Betriebsrat der 230 Zusteller*innen bei der Nordsee-Zeitung in Bremerhaven und beruft sich auf eigene Zeitermittlung. Vier Kilometer, entgegnet das Unternehmen. Auch per Rad oder mit dem Auto könnten längere Distanzen in einer Stunde zurückgelegt und damit mehr Zeitungen zugestellt werden, als vom Betriebsrat behauptet.
Technik errechnet Zustellzeiten
Worum geht es in dem Konflikt? Ein Unternehmen ist per Gesetz verpflichtet, die Arbeitszeit von Beschäftigten aufzuzeichnen. Anders als früher, als die Zusteller*innen Stücklohn erhielten, werden sie jetzt nach Arbeitsstunden bezahlt. Seitdem diese Regelung gilt, wenden Zustellunternehmen technische Systeme an, die angeblich objektive Zustellzeiten errechnen. »Es werden Unsummen in Zeitüberwachungs- und Geoinformationssysteme investiert, um die Zeiten und damit den Lohn zu kürzen«, lautet der Vorwurf von Birgit Hanke, Betriebsratsvorsitzende für die Zusteller*innen bei der Nordsee-Zeitung. Um die Nutzung des Geoinformationssystems zur Arbeitszeiterfassung durchzusetzen, zieht der Verlag jetzt vor die Einigungsstelle.
Zu zahlen ist die geleistete Zeit
Vielleicht ließe sich dort das Schreiben aus dem Bundesarbeitsministerium vorlesen. Darin heißt es wörtlich: »Es sind vom Arbeitgeber sämtliche tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden zu vergüten und im Fall der Zeitungszusteller nach den Vorgaben des Mindestlohngesetzes in Verbindung mit der Mindestlohnaufzeichnungsverordnung auch zu dokumentieren.« Und weiter: Abweichende durch ein Geoinformationssystem errechnete Soll-Arbeitszeiten seien für die Vergütungs- und Dokumentationspflicht des Arbeitgebers aus dem Mindestlohngesetz irrelevant. So steht es in der Antwort aus dem Hause des Bundesarbeitsministers Hubertus Heil (SPD), dem Birgit Hanke geschrieben hatte. Sie sieht sich in ihrer Auffassung bestätigt. Der Betriebsrat plädiert seit Langem dafür, eine App einzusetzen, die die tatsächliche tägliche Arbeitszeit misst.
Zurzeit verhandelt der Betriebsrat einen Sozialplan. Etwa 40 Kolleg*innen sollen entlassen, etwa ein Drittel aller Zustellstunden eingespart und Zustellbezirke neu zugeschnitten werden. Berechnet und ermittelt mit dem neuen Geoinformationssystem.
Maßregeln ist verboten
Viele Zusteller*innen trauten sich nicht, ihre Rechte einzufordern – aus Angst, den Job zu verlieren. So verzichteten 70 bis 80 Prozent auf Lohn, weil sie Mehrarbeit nicht nachmeldeten, hat die Betriebsratsvorsitzende ausgerechnet. Und was passiert, wenn die Zusteller*innen die Zeiten nicht einhalten könnten, weil die Beine und der Rücken schmerzen oder jemand mit 70 nicht mehr so schnell ist wie mit 25 Jahren? Antwort des Verlags: Dann müsse man prüfen, ob diese Beschäftigten für die Zeitungszustellung noch zu gebrauchen seien.
Vielleicht sollte wieder aus dem Schreiben des Bundesarbeitsministeriums vorgelesen werden: »Arbeitgeber, die wegen der Geltendmachung dieser Rechte die Beendigung des Arbeitsverhältnisses oder sonstige benachteiligende Maßnahmen gegenüber dem Arbeitnehmer ergreifen, würden gegen das Maßregelungsverbot des § 612a des Bürgerlichen Gesetzbuchs verstoßen.« Mindestlohnverstöße könnten mit einer Geldbuße von bis zu 500.000 Euro geahndet werden.
Als Rechtsanwalt hat die Nordsee-Zeitung Professor Johannes Weberling beauftragt, der als kompromissloser Arbeitgebervertreter in der Zeitungsbranche gilt. Die Durchsetzung der Zustellkostenoptimierung lässt sich das Unternehmen in Bremerhaven einiges kosten. Weberlings Honorar ist vor allem eins: nicht per Geoinformationssystem errechnet.