Außer Verstandes
Sokrates, der Ur-Vater der Philosophie, sagte: »Ich weiß, dass ich nichts weiß.« Interessanter Ansatz, völlig aus der Mode gekommen: Understatement. Die Leute heute denken, sie tragen mit ihrem Handy das gesamte Weltwissen stets abrufbar mit sich herum. Viele denken sogar, dass sie die Modellnummer ihres Smartphones noch auf ihren IQ draufrechnen dürfen. Und was machen sie draus? Sie posten ihr Mittagessen. Oder Selfies. In der Regel zeigen Selfies nicht sonderlich schöne Individuen vor meist sehr schönem Hintergrund. Aber dafür gibt es ja Filter, die uns schöner machen. Ich bin nicht technikfeindlich! Ich freue mich ja auch, dass ich Bahntickets über die Bahn-App buchen kann, anstatt wie früher in der Schlange am Bahnhofsschalter zu stehen. Schön wäre nur, wenn der Zug dann analog auch zur verabredeten Zeit am Treffpunkt wäre und die Uhrzeiten am Fahrplan nicht nur aus groben Richtwerten bestehen würden. Oder Paarungs-Apps wie Tinder: Früher lernte man jemanden kennen, flirtete und lernte sich bei Interesse näher kennen. Heute guckt man sich Profile an, bevor man jemanden überhaupt das erste Mal trifft. Wo bleibt da die Romantik? Aber alle stellen freiwillig ihr Profil online. Funfact: Ein Profil hatten früher nur Kriminelle.
Mit jeder App, die wir nutzen, lassen wir eine kleine, analoge Fähigkeit verkümmern. Was in der Summe dazu führt, dass wir komplett den Verstand verlieren. Beispiel: Du sitzt seit Stunden im Café. Eigentlich willst du längst nach Hause, doch draußen regnet es in Strömen. Alle paar Minuten kommt ein Gast rein, schüttelt sich und schaut dann auf die Wetter-App im Handy: »Es dürfte gar nicht regnen.« – »Ja, bei mir zeigt’s auch nicht an.« – »Meine App sagt auch, es regnet nicht. Unverschämt, scheiß Ampel-Koalition!« Ein andrer Philosoph – Richard David Precht? – sagte mal: »Ich denke, also bin ich.« Frage: Gilt eigentlich auch der Umkehrschluss?
Robert Griess