Zustände in der Zustellung
Wie Zeitungsverlage Löhne drücken: Tarifverträge aushebeln, Nachtzuschläge kapern, Minderjährige anheuern
An schönen Worten fehlt es nicht. »Wenn die Zeitung morgens nicht pünktlich und ordentlich in den Briefkasten gelangt, dann waren alle Mühen im Vorfeld vergeblich«, schreibt der Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV) auf seiner Internetseite. »Die Zustellung, meist durch eigene Boten, ist der letzte unverzichtbare Arbeitsschritt auf dem Weg zum begeisterten Zeitungsleser.« Dick aufgetragen, aber nicht falsch. Trotz sinkender Printauflagen und trotz aller Bemühungen der Verlage, mehr Geld mit ihren Digitalangeboten zu verdienen, wird der Löwenanteil der Tagespresse nach wie vor als gedruckte Abonnementzeitung verkauft.
Von echter Wertschätzung des Zustellpersonals kann indes kaum die Rede sein. Angesichts schrumpfender Abonnementzahlen bei steigenden Papier- und Energiepreisen fällt vielen Verlagen nichts anderes ein als zu sparen. Einige scheuen nicht davor zurück, bei den Schwächsten, den meist prekär beschäftigten Zusteller*innen, etwas abzuknapsen.
Die Nordsee-Zeitung in Bremerhaven will den Tarifvertrag für ihr Zustellpersonal aushebeln, indem sie die Zustellung in eine andere Firma auslagert. Die ist vorgeblich vom Verlag unabhängig, teilt sich mit ihm allerdings unter anderem den Prokuristen. In Einzelgesprächen unter Ausschluss des Betriebsrats werde den Zusteller*innen der Wechsel sehr nahegelegt, berichtet Betriebsratsvorsitzende Birgit Hanke und spricht von »massivem Druck«, der auf die Kolleg*innen ausgeübt werde. »Da werden Nöte ausgenutzt. Bei uns arbeiten Alte, Kranke, viele, die wenig haben. Sie brauchen das Geld und haben Angst, den Job zu verlieren.« Der Verlag dagegen beteuert: Alles sei völlig freiwillig.
Urlaubstage gestrichen
Geködert werden die Beschäftigten mit einer Bezahlung, die leicht über dem gesetzlichen Mindestlohn liegt. Dafür, sagt Hanke, verlieren sie allerdings Urlaubs- und Weihnachtsgeld sowie fast ein Viertel ihrer Urlaubstage. Viele bekommen auch keinen Nachtzuschlag mehr.
Beim Zuschlag für die Nachtarbeit knausert man auch anderswo. Das Bundesarbeitsgericht hat entschieden, dass für Zeitungszusteller*innen, die regelmäßig mehr als zwei Stunden zwischen 23 und 6 Uhr unterwegs sind, ein Nachtzuschlag von 30 Prozent angemessen ist. Der Medienvertrieb Emsland der Neuen Osnabrücker Zeitung zahlt nur zehn Prozent. Und selbst die immer seltener, weil das Unternehmen das Ende der Arbeitszeit im vergangenen Jahr von 6 Uhr auf 6.30 Uhr verschoben hat. »Alle Kolleginnen und Kollegen, die für ihren Zustellbezirk weniger als zweieinhalb Stunden brauchen, sind damit rausgefallen«, sagt Betriebsratsvorsitzende Tatjana Marien.
Tageszeitung per Post
Die Nordbayerische Zeitungs- und Zeitschriften-Zustellgesellschaft feilscht sogar vor Gericht um jeden Euro. Gegen das Unternehmen, das insbesondere die Nürnberger Nachrichten verteilt, sind nach Angaben des Nürnberger Arbeitsgerichts derzeit mehr als 15 Verfahren anhängig. Unter anderem will das Unternehmen Betriebsratssitzungen nicht als zusätzliche Arbeitszeit anerkennen sowie Betriebsratsmitgliedern die Erstattung von Fahrtkosten verweigern – obwohl manche von weit außerhalb kommen.
Um fast jeden Preis versuchen Zeitungsverlage, die Ausgaben für das Zustellpersonal zu drücken. Mancherorts wird die Tageszeitung mittlerweile mit der Post ausgetragen, auch wenn sie damit nicht mehr frühmorgens im Briefkasten liegt. Es gibt Dörfer, da werden die Zeitungen nur noch zentral abgeworfen, zur Selbstabholung für die Abonnent*innen. So verprelle man treue Leser*innen, meint Stephan Bast, ver.di-Gewerkschafter und Betriebsratsvorsitzender der MV Dresden Zustellservice. Ist der Service schlecht, wird die Zeitung abbestellt. Das weiß auch der Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger: Nach einer Studie, die der Unternehmerverband selbst in Auftrag gegeben hat, führt der Umstieg auf Selbstabholung zu Abo-Kündigungsraten von 40 Prozent. »Die Verlage lassen Print sterben, ohne eine funktionierende Alternative zu haben«, sagt Bast. »Und das sollen dann wir Zustellerinnen und Zusteller ausbaden?«
Abgehängte Dörfer
Wohl am rabiatesten geht die Funke Mediengruppe in Thüringen vor. Das Unternehmen ist zum negativen Trendsetter geworden, indem es die Zustellung der Ostthüringer Zeitung in einigen Dörfern komplett eingestellt hat. Inzwischen eifern andere Verlage nach und ziehen sich ebenfalls aus ländlichen Regionen zurück – verkauft wird der Rückzug als Digitalisierungsstrategie (siehe DRUCK+PAPIER 2/2023).
Kürzlich hat die Funke Mediengruppe zudem eine Firma gekauft, die die Zustellung des Allgemeinen Anzeigers, eines in ganz Thüringen erscheinenden Anzeigenblatts, billiger erledigen soll als die bisherigen Logistiktöchter von Funke in Erfurt. »Diese Firma wirbt gezielt Schülerinnen und Schüler an, die keinen Anspruch auf Mindestlohn haben, schließt befristete Dreimonatsverträge und stellt weder Autos noch Fahrräder für die Zustellung zur Verfügung«, sagt Michael Schieke, Betriebsratsvorsitzender bei Funke Thüringen Logistik Verbund. »Die ist richtig unsozial.« Eine Anfrage zu den Vorwürfen ließ die Pressestelle von Funke unbeantwortet.