Gewerkschaftsgeschichte

Der fast vergessene Zeitungsstreik

1952 erschienen zwei Tage lang keine Tageszeitungen. Die IG Druck und Papier hatte damit den wirksamsten Beitrag in der Kampagne gegen das neue Betriebsverfassungsgesetz der Bundesregierung geleistet. Unfreiwillig wurde der Zeitungsstreik vor 70 Jahren allerdings zum Ausgangspunkt für eine Rechtsprechung, die Gewerkschaften in Deutschland heute noch den politischen Streik untersagen will.

Keine Zeitung im Kasten: Leser*innen informieren sich an den Aushängen in Schaufenstern. Foto: AdsD/FES, 6/FOTA190513

Es war der 28. Mai 1952. Um 15 Uhr stellten die Drucker die Maschinen ab. Erst 20.000 Exemplare der Kölnischen Rundschau waren fertig – normalerweise hatte das Blatt eine Millionenauflage. Ungefähr um die gleiche Zeit versammelten sich Streikposten vorm Eingang der Frankfurter Rundschau. Und vor vielen anderen Toren von Zeitungsdruckereien. Aufgerufen hatte die IG Druck und Papier, eine der Vor-Vorläuferorganisationen von ver.di.

Keine Zeitung, keine Nachrichten

Zwei Tage lang erschien in der Bundesrepublik so gut wie keine Tageszeitung. Anders als heute spürte die Bevölkerung unmittelbar die Folgen des Zeitungsstreiks. Schließlich waren Tageszeitungen neben dem Radio die zentrale Informationsquelle. Fernsehen war zu der Zeit in Deutschland kaum verbreitet.

Von 674 Tageszeitungen waren etwa 35 in reduziertem Umfang erschienen, meist CDU-nahe Blätter. An manchen Orten ließen die Verleger hektografierte Zettel in Schaufenstern aushängen. Die Nachrichten – wenige Zeilen lange Meldungen – interessierten die Leserschaft brennend. Schließlich spitzte sich damals der Kalte Krieg zu. So berichtete der Berliner Tagesspiegel, dass drei Tage später ein Visumszwang für DDR-Besucher*innen in Kraft treten würde. Zugleich versprachen die USA, Großbritannien und Frankreich, die Bundesrepublik und Westberlin gegen einen möglichen militärischen Angriff der Sowjetunion zu verteidigen.

Während die westdeutsche Bevölkerung zwei Tage lang weitgehend auf Nachrichten verzichten musste, ohne den Grund für den Streik genau zu kennen, berichteten DDR-Blätter über die Arbeitsniederlegungen. Überschrift im Neuen Deutschland: »Massenstreik der Drucker legt Kriegshetzerpresse lahm.«

Eine der wenigen Notausgaben, die am 28. Mai 1952 erschienen sind
Foto: Scan, ver.di-Archiv

DGB-Demonstration gegen das Betriebsverfassungsgesetz der Bundesregierung 1952 in Düsseldorf
Foto: AdsD/FES, 6/FOTB008029

Tatsächlich war es der erste politische Streik nach dem Zweiten Weltkrieg. Er richtete sich gegen den Entwurf eines neuen Betriebsverfassungsgesetzes, wie ihn die CDU/CSU-Bundestagsfraktion 1950 eingebracht hatte. Das Gesetz sollte festschreiben, dass Betriebsräte nur bei sozialen Angelegenheiten mitreden durften. Über die Ausrichtung der Unternehmen sollten dagegen die Eigentümer entscheiden: Sie sollten zwei Drittel der Sitze in den Aufsichtsräten bekommen, der Rest für die Vertreter der Beschäftigten. Die Rolle der Gewerkschaften beschränkte sich nach diesem Modell darauf, mit den Unternehmerverbänden Tarife auszuhandeln.

Die Gewerkschaften wollten aber viel mehr als nur ein bisschen mitreden. Sie wollten eine neue Wirtschaftsordnung. Die Kernforderungen beim Gründungskongress des DGB 1949 lauteten: Mitbestimmung der Arbeitnehmer in allen Fragen und auf allen Ebenen sowie Überführung der Schlüsselindustrien in Gemeineigentum.

Das war die Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg, in dem die Großindustrie den Krieg angeheizt und von ihm profitiert hatte. Doch Vergesellschaftung und gleichberechtigte Mitbestimmung waren mit der CDU und FDP nicht zu machen. Sie wollten Gewerkschaften aus den Betrieben möglichst raushalten.

Dabei hatten zwei Einzelgewerkschaften bereits einen großen Erfolg erstritten. Die IG Metall und die IG Bergbau riefen 1950 zur Urabstimmung auf, um notfalls mit einem Streik für die Unternehmensmitbestimmung zu kämpfen. Die Machtdemonstration war so überwältigend, dass ein Streik nicht mehr nötig war. Am 18. April 1951 wurde das Montanmitbestimmungsgesetz im Bundestag verabschiedet. Montanbetriebe werden Unternehmen genannt, die hauptsächlich Eisenerze und Kohle fördern oder Eisen und Stahl erzeugen. Die paritätische Mitbestimmung – also gleich viele Aufsichtsratsmitglieder für Anteilseigner und Arbeitnehmer – blieb in der Stahlindustrie erhalten und wurde im Bergbau neu durchgesetzt.

Massenkundgebungen

Regierung und Unternehmen fürchteten, dass dieses Gesetz auch für andere Wirtschaftsbereiche greifen könnte. Genau das war im Sinn einiger Gewerkschaften. Der DGB gründete einen Rat mit Vertretern der Einzelgewerkschaften. Der beschloss im April 1952, mit voller Breitseite gegen den Regierungsplan vorzugehen. »Dieser Entwurf darf nicht Gesetz werden!« war die zentrale Botschaft eines Flugblatts, das zehn Millionen Mal verteilt wurde. Der DGB schrieb Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) einen Brief: Die Arbeitnehmer fühlten sich um die Früchte ihrer Arbeit beim Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg betrogen, sollte das Gesetz in der vorliegenden Form verabschiedet werden. Adenauer reagierte abwehrend und brachte den DGB öffentlich mit den ostdeutschen Kommunisten in Zusammenhang.

Die Gewerkschaften riefen Mitte Mai 1952 in der Bundesrepublik zu Massenkundgebungen gegen das Betriebsverfassungsgesetz auf. In Hamburg und Bochum gingen jeweils 150.000 Menschen auf die Straße, in Frankfurt wurden 120.000 gezählt. Auch in Mannheim, Essen, Kiel, München, Wuppertal und vielen weiteren Städten beteiligten sich Zehntausende an Protesten und Warnstreiks. Die Aktion der Drucker, Setzer und Helfer aber war der Höhepunkt.

Doch das Ganze endete als Desaster. Dafür gab es mehrere Gründe: Die Gewerkschaften waren chancenlos gegen die parlamentarische Mehrheit, das Verständnis der Bevölkerung war gering, die Öffentlichkeitsarbeit schlecht, die Gewerkschaften waren sich nicht einig. Die IG Bergbau und die IG Metall, die bereits ihre Unternehmensmitbestimmung gesichert hatten, ließen die IG Druck und Papier im Regen stehen. In einer Vorstandssitzung der IG Druck und Papier analysierte deren Vorsitzender Heinrich Hansen den Zeitungsstreik mit deutlichen Worten: »Wenn man eine Aktion beginnt, die gegen die Bundesregierung gerichtet ist, darf man nicht auf halbem Weg umkehren, sondern es muss die gesamte Kraft der Industriegewerkschaften eingesetzt werden, und dazu gehören auch Bergbau und Metall.«

Niederlage vor Gericht

Unmittelbar nach dem Zeitungsstreik zogen mehrere Druckereien und Verlage vor Gericht. Sie verlangten Schadenersatz für die zwei Streiktage. Doch es ging ihnen nicht in erster Linie ums Geld. Vielmehr wollte der Arbeitgeberverband BDA, der die Klagen koordinierte, Grundsatzurteile erreichen. Die sind in die Geschichte eingegangen. Fast alle Richter stützten ihre Urteile auf ein Gutachten von Hans Carl Nipperdey. Der war schon in der Nazizeit ein bedeutender Jurist, allerdings ebenfalls eine Zeit lang Berater des DGB-Vorsitzenden Hans Böckler und wurde später Präsident des Bundesarbeitsgerichts. Nipperdey hatte in seinem Gutachten ausgeführt, dass Streiks nur zulässig sind, wenn sie auf eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen abzielen. Druck auf die Gesetzgeber auszuüben, geht dagegen nicht. Deshalb erklärten fast alle Gerichte den Zeitungsstreik von 1952 für rechtswidrig. Die Strafzahlungen, zu denen die IG Druck und Papier verurteilt wurde, übernahm am Ende der DGB.

Der Bundestag verabschiedete am 11. Oktober 1952 das Betriebsverfassungsgesetz, wie von der Parlamentsmehrheit gewünscht. Es hob die besseren Betriebsrätegesetze der Länder auf und war schlechter als das Reichsbetriebsrätegesetz von 1920. Vielleicht ist das der Grund, warum die Gewerkschaften heute die Novelle des Betriebsverfassungsgesetzes von 1972 feiern und nicht das 70-jährige Bestehen seit 1952.

Viel Zeit zum Verschnaufen gab es für die IG Druck und Papier nicht: Im gleichen Jahr begann der Kampf um mehr Lohn. Die Drucker, Setzer und Helfer legten die Arbeit wieder nieder. Es war der erste Lohnstreik nach Jahrzehnten – und er war erfolgreich.

Quellen u.a.: Kittner, Michael: Arbeitskampf. Geschichte, Recht, Gegenwart. München: Beck, 2005