Als ein Drittel aller Mitglieder streikte
Schlaglichter auf legendäre Tarifkämpfe in den 1970er-Jahren
Sind Streiks und Aussperrung Relikte aus dem 19. Jahrhundert? Weit gefehlt, sagt Gerhard Kirchgäßner. Der frühere ver.di-Bereichsleiter befasst sich für eine geplante Publikation des Karl-Richter-Vereins mit den Tarifkämpfen in der bundesdeutschen Druck- und Verlagsbranche seit den 1960er-Jahren.
DRUCK+PAPIER: Bis Anfang der 1970er-Jahre reichte es oft schon, wenn die IG Druck und Papier Streiks nur androhte, um kräftige Lohnerhöhungen und Arbeitszeitforderungen durchzusetzen?
Gerhard Kirchgäßner: Ja, etwa 20 Jahre lang konnte man so am Verhandlungstisch auch eine Arbeitszeitverkürzung von 48 auf 40 Wochenstunden, die Fünf-Tage-Woche mit dem arbeitsfreien Samstag, längeren Urlaub und höheres Urlaubsgeld, mehr Zuschläge und sechs Wochen Lohn- und Gehaltsfortzahlung bei Krankheit erreichen.
Dann ging es wieder härter zur Sache?
Zunächst sorgte die Ölkrise 1973 dafür, dass für ein akzeptables Tarifergebnis in der Druckindustrie und den Zeitungs- und Zeitschriftenbetrieben wieder gestreikt werden musste. Noch einschneidender gestaltete sich dann der Tarifkampf gegen die sogenannten Lohnleitlinien der Bundesregierung 1976.
Der Staat hat sich eingemischt, Lohnleitlinien vorgegeben und damit die Tarifautonomie verletzt?
Gerhard Kirchgäßner hat Schriftsetzer gelernt, war später Konzernbetriebsratsvorsitzender bei der Stuttgarter Zeitung, arbeitete seit 1983 hauptamtlich bei der IG Druck und Papier als Angestelltensekretär, war Vorstandssekretär bei der IG Medien und bis 2009 auf ver.di-Bundesebene Bereichsleiter Verlage, Druck und Papier.
Foto: privat
Die sozial-liberale Bundesregierung unter Kanzler Helmut Schmidt (SPD), der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) – beides die Spitzenorganisationen – hatten 5,4 Prozent Lohnsteigerung als Schallmauer ausgerufen. Mehr sollte es nicht geben. Selbst die IG Metall und die IG Chemie samt einiger kleinerer Gewerkschaften hatten sich diesem Diktat unterworfen.
Die IG Druck und Papier hat im Frühjahr 1976 energisch widersprochen: »9 Prozent – konsequent« hieß unsere Forderung. Alle waren kämpferisch und hoch motiviert. Leonhard Mahlein, der legendäre Vorsitzende, verkündete das Ergebnis der Urabstimmung: 88,2 Prozent. Der bundesweite Streikbeginn war damals als Aufmacher in der Tagesschau. Das hat es noch nie gegeben.
Mehr als zwei Wochen wurde in der Druckindustrie gestreikt. Anfangs waren 16.000 Druckbeschäftigte im Streik. Die Unternehmer haben sofort bundesweit 145.000 ausgesperrt. Diese Eskalation hat ihnen nicht geholfen. Im Gegenteil: 60.000 bis 70.000 Beschäftigte waren insgesamt im Ausstand, etwa ein Drittel aller Mitglieder. Und es gab erstmals Solidaritätsstreiks auch von Redakteur*innen und Verlagsangestellten in der Zeitungs- und Zeitschriftenbranche. Bei der Bremer Zeitung haben etwa 80 Prozent der Verlagsangestellten mitgestreikt.
Das war eine Blaupause für die gemeinsame Tarifauseinandersetzung um die Einführung rechnergestützter Textsysteme in Druckindustrie und Zeitungsverlagen 1978?
Schon, doch waren von den neuen technischen Entwicklungen verschiedene Berufsgruppen ganz unmittelbar erfasst. Ausgangspunkt war die Satzherstellung mit den Schrift- und Maschinensetzern, Perforator-Tasterinnen, Korrektoren – aber auch Verlagsangestellte waren betroffen. Selbst renommierte Journalist*innen in den Redaktionen mussten plötzlich Schreibmaschinenkurse besuchen. Im Druck selbst vollzog sich der Wandel vom Blei zu Offset-Rotationsmaschinen. Große neue Druckzentren entstanden – zuerst bei uns in der Stuttgarter Zeitung, dann bei Axel-Springer-Betrieben. In der Auseinandersetzung ging es für die Texterfassung und -gestaltung um Arbeitsplatzgarantien, um Facharbeiterschutz – die Unternehmer wollten ungelernte Kräfte billig einsetzen – sowie Umschulungen und Lohnbestandsschutz. Außerdem um eine klare Abgrenzung redaktioneller und technischer Tätigkeiten. All das sollte in einem Tarifvertrag festgeschrieben werden.
Und der kam schließlich auch.
Der Arbeitskampf um den RTS-Tarif (Rechnergestützte Textsysteme, d. Red.) wurde zum längsten Streik in der IG Druck und Papier, wiederum durch Aussperrungen verschärft. Es gab dabei etwas Bemerkenswertes. Mit einer ersten Tarifeinigung im rheinland-pfälzischen Mayschoss waren Teile der Tarifkommission, vor allem aber Betriebsräte, Vertrauensleute und Beschäftigte nicht zufrieden, weil sie viele Lücken und Schlupflöcher ließ. Es wurde solch ein Druck auf den Hauptvorstand entwickelt, dass nachverhandelt wurde. Ein ziemlich einmaliger Vorgang. Der dann zwischen IG Druck und Papier, dem Deutschen Journalistenverband sowie dem Bundesverband Druck, dem Zeitungs- und dem Zeitschriftenverlegerverband vereinbarte bundesweite Tarifvertrag war der beste zum Rationalisierungsschutz, den wir je durchgesetzt haben. Andere Gewerkschaften nahmen ihn als Vorbild. Und: Keine Seite hat ihn je gekündigt – er gilt in wesentlichen Bestandteilen noch heute.