Aus den Betrieben

Auf die Plätze, fertig, los!

Weltmeisterschaften bei Mayr-Melnhof: Für höhere Unternehmensgewinne um die Wette drucken und stanzen

Die Stoppuhr kommt nicht nur bei Wettbewerben zum Einsatz, sondern auch wenn bei Mayr-Melnhof wieder Unternehmensberater in den Werken unterwegs sind.

Das Team ist enttäuscht. Nur der 4. Platz. Dafür gibt es keinen Preis – nur für jeden 200 Euro vom Geschäftsführer als Trost. Dabei hatten sich alle im Team ins Zeug gelegt. Sie rüsteten die Maschine flotter denn je um, behoben in Windeseile Störungen und druckten, druckten, druckten. Um bei der Weltmeisterschaft im Offset zu siegen. Die hatte die in Wien ansässige Konzernspitze von Mayr-Melnhof ausgerufen. 16 Werke aus 11 Ländern waren ausgesucht worden, von Mitte Oktober bis Ende November 2019 gegeneinander anzutreten. Erst innerhalb der Gruppe, dann nach dem K.-o.-System wie bei einer richtigen Fußball-WM. Gold ging an ein Werk in Russland, Silber nach Kolumbien, Bronze nach Polen. Das Offset-Team in Kaiserslautern verfehlte einen Platz unter den ersten drei.

Standort gegen Standort

»Wir standen alle unter Strom«, erzählt ein Drucker bei C.P. Schmidt in Kaiserslautern. Die Führungskräfte feuerten an, »die Kollegen legten noch eine Schippe drauf.« Den Erstplatzierten winkt eine Reise zu einer internationalen Sportveranstaltung, für die Zweiten gibt es Tablet-PCs, die Dritten erhalten Smartuhren. 

Die WM hat Spaß gemacht, sagen manche. Das schweißt die Mannschaften über die Schichten hinweg zusammen. Doch es gibt auch Kritik. »Es geht dem Konzern vor allem darum, noch mehr aus den Leuten rauszuholen«, sagt Robert Brell, Betriebsratsvorsitzender von C.P. Schmidt. Die Ergebnisse nutze das Unternehmen, um darauf hinzuweisen, dass auch mit alten Druckmaschinen jede Menge Leistung erzielt werden könne. 

Was nach Sportsgeist klinge, ergänzt ein Drucker, sei letztlich nur eine weitere Methode des Konzerns, die Beschäftigten gegeneinander auszuspielen. Standort gegen Standort. Land gegen Land. Dann bekämen die Werke in Deutschland auch wieder zu hören, dass es andere Standorte trotz niedrigerer Löhne aufs Siegertreppchen schafften. 

Die Vorgaben aus Wien sind zudem für alle Werke gleich. Unabhängig vom Alter und Zustand der Maschinen, von der Art der Aufträge oder der Zahl und Qualifikation der Beschäftigten. Mayr-Melnhofs Pressesprecher Stephan Sweerts-Sporck verteidigt die Wettbewerbe: »Hier wird der Leistungsfaktor mit dem Spaßfaktor verbunden.« Die Mitarbeiter seien stolz und hoch motiviert. Sie betrachteten es als Ehre, das eigene Werk bestmöglich zu vertreten.

Mehr Tempo, mehr Ausstoß

Die Weltmeisterschaft ist ein Sonderfall, aber keine Ausnahme. Mayr-Melnhof lobt häufig Wettbewerbe oder Projekte für die Produktionsteams aus. Der Mensch liebt Herausforderungen. Das soll der Vorstandsvorsitzende von Mayr-Melnhof, Wilhelm Hörmanseder, gesagt haben. Aus der Zentrale in Wien werden Projekte mit solch illustren Titeln wie »Herbst-Offensive«, »599«, »Ausbringung 1« oder »1 Stunde Hilfszeit« bis in jedes Werk durchgereicht. »599« – das war ein Projekt für die Stanz-Abteilungen: Das Einrichten der Stanzmaschine sollte nicht länger als 599 Sekunden, also knapp 10 Minuten dauern. Hinter »1 Stunde Hilfszeit« verbirgt sich: Jede Maschine darf pro Tag maximal eine Stunde wegen Störung oder Warten auf Material stillstehen. Preise gibt es nicht immer, Druck ständig. Dieses Jahr ist ein Rüstjahr – das Rüsten der Druckmaschinen soll im Schnitt nicht länger als 25 Minuten dauern. 

Die Ziele des Konzerns sind stets die gleichen: mehr Tempo und Ausstoß, weniger Ausschuss und Stillstand – kurzum: mehr Produktivität. »Wir fahren stets am oberen Limit. Und mit knappem Personal. Das ist so gewollt«, sagt Ingo Hilgers, Betriebsratsvorsitzender bei MM Packaging Caesar in Traben-Trabach. Einmal erbrachte Höchstleistungen würden schnell zum Standard. Nicht nur das: In der Regel übergeht Mayr-Melnhof auch die Betriebsräte, die bei solchen Wettbewerben ein Recht auf Mitbestimmung haben.

Serkan Ince, Betriebsratsvorsitzender bei MM Packaging Schilling in Heilbronn, stimmt zu: »Die Strategie des Konzerns ist, auf Teufel komm raus alles rauszuholen. Auf Kosten der Beschäftigten.« Gespart würde am Personal, an neuen Maschinen, am Material. Auch an der Bezahlung. In vielen Werken arbeiten die Beschäftigten bis zu drei Stunden gratis – Mayr-Melnhof nutzt die tarifliche Öffnungsklausel zur Verlängerung unbezahlter Arbeitszeit. 

Wettbewerbe sind bei Mayr-Melnhof nicht die einzige Methode, um mehr Produktivität zu erzeugen. Der Konzern setzt auf klassische Kontrollinstrumente, wie es sie auch in anderen Betrieben gibt. Vor einigen Jahren wurden sogenannte Speed-Monitore angeschafft. Von der Decke hängende 42-Zoll-Bildschirme zeigen die Soll- und die tatsächliche Geschwindigkeit an. Liegt die tatsächliche unter dem Soll, leuchtet die Anzeige rot. »Das Rot ist nicht zu übersehen«, sagt ein Drucker. Bleibt die Mannschaft unterm Soll, muss das begründet werden. 

Herbeizitiert, um einzuschüchtern

Die Speed-Monitore sind Teil eines Systems, zu dem auch eine Software gehört, mit der es möglich ist, zu jeder Zeit und von jedem Ort der Welt aus in Echtzeit die Leistungen jedes Werks, jeder Schicht, jeder Maschine und jedes Beschäftigten herauszufiltern und miteinander zu vergleichen. In einem Werk sei es vorgekommen, dass ein Ranger – so werden die Nachwuchsführungskräfte bei Mayr-Melnhof bezeichnet – die Daten eines Beschäftigten gezogen habe und ihn nach der Ursache für seine angebliche Schlechtleistung befragte. Verhaltens- und Leistungskontrollen sind jedoch verboten. Zumindest gibt es in einigen Werken dazu Betriebsvereinbarungen. »Kollegen werden ein paar Mal vom Abteilungsleiter gefragt, warum dies oder jenes nicht funktioniert hat. Das reicht schon, um jemanden einzuschüchtern«, sagt Serkan Ince.

Der Druck kommt aus Wien und wirkt bis in jedes Werk. Wenn Betriebsräte auf die Mitbestimmung und die Einhaltung von Gesetzen pochten, werde mit Schließung des Werks gedroht. »Dann ist hier eben in drei bis fünf Jahren das Licht aus, war die Reaktion des Geschäftsführers«, erzählt ein Betriebsratsmitglied. 

Vielleicht ist bald Schluss mit den Weltmeisterschaften bei Mayr-Melnhof. Vorstandsvorsitzender Wilhelm Hörmanseder wurde im Januar überraschend abberufen. Er sollte den Vorsitz noch bis Mitte 2021 führen. Sein Nachfolger wird ab 1. April Peter Oswald, vormals Vorstandschef beim südafrikanisch-britischen Papierkonzern Mondi. Eines ist in beiden Konzernen gleich: Die Zusammenarbeit mit widerständigen Betriebsräten ist konfliktreich. 

Der Konzern Mayr-Melnhof

Geschäftsfelder

Mayr-Melnhof ist eine börsennotierte Aktiengesellschaft mit Sitz in der österreichischen Hauptstadt Wien. Das Unternehmen unterscheidet die Geschäftsfelder Karton (hauptsächlich Herstellung von Recyclingkarton) und Packaging (Herstellung von Faltschachteln). Mayr-Melnhof hat nach eigenen Angaben 52 Produktionsstandorte auf 3 Kontinenten, 7 Kartonwerke und 45 Standorte für Packaging. In Deutschland gibt es vier Packaging-Werke (Kaiserslautern, Traben-Trabach, Heilbronn, Alfeld) und fünf Werke, die zur Graphia-Sparte (Tabak) gehören. Weltweit arbeiten knapp 9.500 Beschäftigte bei dem Konzern. Dieser erzielte 2018 einen Gewinn vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen (EBIDTA) von 332 Millionen Euro. Neuere Zahlen liegen nicht vor. 

Eigentümer

Die Mehrheit der Aktien gehört der Familie Mayr-Melnhof, 43 Prozent sind im Streubesitz. Die österreichische Unternehmerfamilie ist nach Angaben des Online-Lexikons Wikipedia im 19. Jahrhundert in der Stahl- und Hüttenindustrie zu großem Wohlstand gekommen und erwarb den größten Privatforstbetrieb Österreichs.