Zeitgeschichte

Von rasenden Zügen, 
arroganten Westdeutschen und einem eisigen Kapitalismus

30 Jahre nach Grenzöffnung gibt es noch immer Unterschiede | Nicht nur bei der Arbeitszeit 
in der Papierverarbeitung | Ein Mauergespräch

Fast täglich wird aus und über den Osten berichtet – da will DRUCK+PAPIER nicht fehlen. Drei Jahrzehnte ist es her, dass die Grenze geöffnet wurde. Wo wart ihr damals? Wie ist es euch nach der Wende ergangen? Das haben wir Volker Witkowski, 53, und Enrico Rohmund, 49, gefragt. Die beiden Betriebsräte arbeiten bei DS Smith Mivepa Arenshausen.

Was habt ihr gemacht, als am 9. November 1989 die Grenze geöffnet wurde?

Volker Witkowski: Wir hatten schon die ganzen Tage zuvor bei der Arbeit Radio gehört und diskutiert. Der ein oder andere ist nicht mehr zur Arbeit gekommen und über Ungarn oder die Prager Botschaft abgehauen. Es war überall Unruhe. Aber auch eine total spannende Zeit. Wir Jüngeren – ich war 23 – haben das locker genommen und Witze gemacht: Gell, Willi, der war Parteimitglied, der Letzte macht das Licht aus.

Enrico Rohmund: Ich habe mir keine Gedanken gemacht, ich war 19. Was kommt, wusste ja eh keiner. Wir haben immer mal wieder die Schicht unterbrochen, rein in die Autos und zur Demo. 
Da haben wir nicht lange gefragt.

Volker: Wir wollten, dass sich was 
ändert. Wir wollten eine bessere DDR.

Unser Arbeitstitel für das Treffen hieß »Mauergespräch«. Getroffen haben wir uns in Göttingen – nahe der ehemaligen Grenze. Von links: Enrico Rohmund, Betriebsrat, Michaela Böhm, Redakteurin der DRUCK+PAPIER, Monika Helfensritter, ver.di-Gewerkschaftssekretärin in Erfurt, Volker Witkowski, Betriebsrat.

Volker Witkowski hat Zerspaner gelernt und wohnte direkt an der Grenze im Sperrgebiet.

Enrico: Ja, eine andere DDR. Mit Reisefreiheit. 
Und das Regime sollte verschwinden. Am 
9. November haben wir abends bei einem Bier in der Gaststätte zusammengesessen. Da hieß es, die Grenze ist offen. Klar haben wir uns gefreut. Aber es hat mich nicht vom Hocker gerissen. Ich bin erst vier Wochen später mit meinen Eltern nach Kassel gefahren, um Verwandte zu besuchen.

Volker: Man wusste ja nicht: Ist die Grenze nur für ein paar Stunden auf oder für immer? Nächsten Tag bin ich erst mal los, um mir einen Ausreisestempel zu besorgen. So artig war man eben als DDR-Bürger. Aber da standen Tausende, sodass wir wieder umgekehrt sind. 
Bei uns im Eichsfeld ist die Grenze am 
11. November um 13:28 Uhr geöffnet worden. Da steht jetzt ein Schild.

 

Die Erinnerung nimmt dich sehr mit.

Volker: Ja, nach den Jahren des Eingesperrtseins waren wir frei.

Fühlt ihr euch frei?

(Beide nicken.)

1990 geht alles rasend schnell. Freie Volkskammerwahlen, Auflösen des FDGB (Dachverband der DDR-Gewerkschaften), Währungsunion, Vollzug der deutschen Einheit.

War die Wende ein Bruch in eurem 
Leben?

Volker: Die Meldungen haben sich geradezu überschlagen. Das war wie ein ICE, der an einem vorbeigerauscht ist. Noch vor wenigen Monaten hatten wir für eine andere DDR demonstriert, ein halbes Jahr später existierte sie schon nicht mehr. Mich hat umgetrieben, wie es mit mir weitergeht, mit der Arbeit, in der Familie, im Dorf. Mein Schwiegervater war selbstständiger Tischler. Der musste seine Werkstatt zumachen – die Leute wollten nur noch Fenster und Türen aus dem Westen kaufen. Viele Kindergärten und Krippen wurden geschlossen. Weil der Abschluss meiner Frau als Krippenerzieherin nicht anerkannt wurde, musste sie ein halbes Jahr zur Schule gehen und den nachholen. Für mich war die Wende ein riesiger Umbruch.

Enrico Rohmund hat Offsetdrucker bei Mivepa gelernt.

Enrico: Für mich war das nicht so. Meine Eltern hatten wieder Arbeit, ich auch. Erschüttert hat mich nichts.

Volker: Man war so behütet in der DDR. Wir sind erst richtig wach geworden, als das losging mit den Betriebsschließungen und der Arbeitslosigkeit. Und dann haben sie das Kaliwerk Bischofferode geschlossen. 30 Kilometer von uns weg.

»Ostdeutsche arbeiten länger, 
verdienen weniger, pendeln weiter, haben weniger Vermögen, geringere Alterseinkünfte und leben kürzer.«

Michael Kopp, Drucker, 
ver.di-Landesfachbereichsleiter

Im Kaliwerk hatten 1.000 Leute Arbeit. Die Kumpel hatten mit Besetzungen, Hungerstreiks und ihrem Marsch nach Berlin gegen die geplante Schließung protestiert: »Bischofferode ist überall.« Ende 1993 wurde das Werk geschlossen.

Volker: Da hat man richtig gemerkt, wie hart der Kapitalismus zuschlägt und die Politik war …

Enrico: … machtlos.

Volker: Nee, die hat nichts unternommen.

Anders als viele Erwerbstätige in der DDR wurdet ihr nicht arbeitslos. Die Treuhand hatte mehrere Bewerber für das Werk an der Hand?

Volker: Ja, Thimm Verpackung in Northeim, Stabernack, Europa Carton und Zewawell. Die Belegschaft durfte mitreden. Thimm hat uns alle einen Tag lang nach Northeim eingeladen, das Werk gezeigt und uns mit Essen und Freibier bewirtet. Aber unser Chef, unser ehemaliger Betriebsleiter, war skeptisch, ob Thimm nicht nur an den Kundenstamm ranwollte und das Werk dann dichtgemacht hätte.

Die IG Medien hatte sich 1991 eingeschaltet. Ihr lagen Informationen vor, wonach Zewawell bei einer Übernahme in eine Wellpappmaschine investieren wollte und keinen Personalabbau im großen Stil plante. Zudem waren im Aufsichtsrat des Mutterkonzerns PWA das Unternehmen und die Gewerkschaft gleichermaßen vertreten. Die Belegschaft unterstützte den Vorschlag, die Treuhand stimmte der Übernahme zu.

»Wir kennen beide Systeme. 
Anders als Westdeutsche.«

Monika Helfensritter, Schriftsetzerin, 
ver.di-Gewerkschaftssekretärin

Nach der Wende arbeiteten die Beschäftigten der Papierverarbeitung Ost für 
75 Prozent des Westtarifs. In Stufen stieg der Lohn auf Westniveau. Sind damals viele in die Gewerkschaft eingetreten?

Enrico: Nein. Viele sagten, Gewerkschaft bringt doch nichts. Das kannten sie aus der DDR. Die hat nur Ferienheimplätze verteilt und am 1. Mai musste man noch eine Nelke für eine Ost-Mark kaufen. Gewerkschaftsmitgliedschaft war in der DDR ein Muss.

Und heute?

Volker: Wir sind ja streikfähig, das haben wir bewiesen. Aber es ist nicht einfach, die Kollegen auf die Straße zu holen. Vielen fehlt auch das Verständnis, dass es viele Gewerkschaftsmitglieder braucht, die streiken und Druck machen, wenn man ein gutes Ergebnis haben will.

Noch heute müsst ihr zwei Stunden länger für den gleichen Lohn arbeiten als die Papierverarbeitung im Westen. Wie ist das?

Volker: Die Unterschiede müssten schon mal verschwinden, aber ich kann damit leben.

Enrico: Wir können mit unserem Verdienst die Familie ernähren.

Macht es noch einen Unterschied, ob jemand aus dem Westen oder dem 
Osten kommt?

Enrico: Für mich persönlich ja. Die Westdeutschen sind uns mit einer gewissen Arroganz nach der Wende begegnet. Sie haben uns nicht wie Gleichwertige behandelt. Und uns schon gar nicht zugetraut, dass wir gute Produkte herstellen und den Betrieb weiter am Leben halten können.

Ein Kollege aus dem Osten hat einmal gesagt: Unsere Lebensleistung wird nicht anerkannt. Stimmt ihr dem zu?

Volker: Unbedingt. Ich fühle mich manchmal behandelt wie ein Mensch zweiter Klasse. Wir haben nach der Wende so viel schlucken müssen. Tausende Betriebe wurden plattgemacht. Das brodelt bei den Leuten heute noch. Bei mir auch.

Was vermisst ihr im Betrieb?

Enrico: Die Kollegialität untereinander.

Volker: Werte wie Ehrlichkeit, Offenheit und Freundlichkeit.

»Der Osten ist gutmütiger, der lässt sich zu viel gefallen. Der Westen ist fordernder. «

Monika Helfensritter, Schriftsetzerin, 
ver.di-Gewerkschaftssekretärin

Einst im Sperrgebiet

Im nächsten Jahr feiert DS Smith Arenshausen Mivepa sein 100-jähriges Jubiläum. Das Werk hat eine wechselvolle Geschichte: Zunächst als Luckenwalder Wellpappenfabrik gegründet, hieß der verstaatlichte Betrieb in der DDR Mitteldeutsches Verpackungsmittelwerk (Mivepa) Ernst Thälmann (175 Beschäftigte). Weil Mivepa im Sperrgebiet lag, durften nur Beschäftigte aus den angrenzenden Dörfern dort arbeiten. Nach der Vereinigung wurde der Betrieb von Zewawell (zugehörig zu PWA) gekauft, 1996 von SCA übernommen und 2012 von DS Smith (236 Beschäftigte). Seit 2014 gilt ein Haustarifvertrag mit Anerkennung des Flächentarifs der Papierverarbeitung Ost.