»Wer Uniform trug, war wichtig«
»Der rote Hitlerjunge« Günter Lucks ist tot | Zeitzeuge und Buchautor | Langjähriger Vorsitzender der Grafischen Hilfskräfte in der IG Druck und Papier
Günter Lucks war schon 80 Jahre alt, als er begann, seine Erinnerungen aufzuschreiben. Das kam so: An einem Januarmorgen 2005, er wollte eine Jacke kaufen, die Geschäfte hatten noch zu, schlenderte er um den Hauptbahnhof von Hamburg, stand auf der Brücke, die über die Gleise führt, und schaute zum ehemaligen Postamt. Hier hatte er 1943 als Postjungbote bei der Reichspost gelernt. Vier Jahre war er da schon bei der Hitlerjugend. In Gedanken versunken, ging er auf Zeitreise. »Und plötzlich war alles wieder da«, berichtet er in seinem Buch »Ich war Hitlers letztes Aufgebot« über seine Erlebnisse als 16-Jähriger bei der SS. Kindersoldat würde man heute dazu sagen.
Die Hamburger Morgenpost suchte damals Zeitzeug*innen, die zum 60. Jahrestag der Befreiung erzählen, was für sie der 8. Mai 1945 bedeutet. Günter Lucks meldete sich, sein Artikel wurde gedruckt.
Jahre später schickte er 30 dicht beschriebene Schreibmaschinenseiten an die Zeitung, die dem Redakteur Harald Stutte in die Hände fielen: »Ich wollte zumindest den Anfang lesen, doch der Text ließ mich nicht mehr los.« Während Dutzenden von Treffen zwischen Lucks und Stutte entstanden in Co-Autorenschaft vier Bücher.
Geschrieben hat Günter Lucks noch mit über 90. Vorwiegend Leserbriefe, die er am Computer schrieb und per Mail schickte. Gern auch an die DRUCK+PAPIER. Wenn er noch etwas ergänzen wollte, etwa zu einem Artikel über die Tiefdruckerei Broschek, wo er Anfang der 1960er-Jahre arbeitete. »Übrigens«, so beendete er seinen Leserbrief, »waren wir zu der Zeit alle Mitglieder der Gewerkschaft Druck und Papier!« Ausrufezeichen. Günter Lucks wechselte von Broschek zum Axel-Springer-Verlag, wo er als Hilfskraft an der Druckmaschine arbeitete. Er wird in den Betriebsrat und zum Bundesvorsitzenden der Grafischen Hilfskräfte in der IG Druck und Papier gewählt.
In seinem Buch »Der rote Hitlerjunge« geht es um seine Kindheit: die Eltern Kommunisten, der Vater aktiv im Rotfrontkämpferbund, der Onkel Sozialdemokrat. Aufgewachsen ist er im sozialdemokratisch-kommunistischen Arbeitermilieu im Hamburger Osten. Wie wird so einer Hitlerjunge? Die Frage stellt sich Lucks auch im Buch immer wieder. Und gibt selbst die Antwort: »Es lag sicher auch daran, dass ich Uniformen liebte. Wer Uniform trug, war wichtig.« Zwei Drittel seiner Klasse trugen die Jungvolk-Uniform, er wollte dazugehören.
Seine Erlebnisse hat er nicht nur für sich versucht zu verarbeiten. In den letzten zehn Jahren war er häufig als Zeitzeuge in den Medien und an vielen Hamburger Schulen zu Gast. Es sei ihm wichtig gewesen, seine Erfahrungen an die Jungen weiterzugeben, schreibt der Rowohlt Verlag im Nachruf.
Wir wollten Günter Lucks gern für DRUCK+PAPIER porträtieren. Doch erst kam die Corona-Pandemie, dann seine schwere Krankheit. Am 7. Dezember 2022 ist er mit 94 Jahren gestorben.
Vier Monate Soldat – fünf Jahre Kriegsgefangenschaft
Am 4. Oktober 1928 kommt Günter Lucks in Hamburg zur Welt. Mit 16 meldet er sich als Kriegsfreiwilliger und wird im März 1945 für die »Kampfgruppe Böhmen in der SS-Panzergrenadierdivision Hitler- jugend« rekrutiert. Knapp vier Wochen später trifft ihn eine Granate. Die Sowjets nehmen ihn in Kriegsgefangenschaft und halten ihn über fünf Jahre in verschiedenen Lagern fest. Erst Anfang 1950 kommt er wieder nach Hamburg und geht später mit Frau und Kind in die DDR, um das bessere Deutschland mitaufzubauen. Lange hält es ihn nicht dort: Von Gängelung und Dogmatismus genervt, kehrt die Familie nach 18 Monaten in die Heimatstadt zurück.
Seine Bücher
Günter Lucks / Harald Stutte: Ich war Hitlers letztes Aufgebot: Meine Erlebnisse als SS-Kindersoldat, 2010.
Günter Lucks / Harald Stutte: Hitlers vergessene Kinderarmee, 2014.
Günter Lucks / Harald Stutte: Der rote Hitlerjunge: Meine Kindheit zwischen Kommunismus und Hakenkreuz, 2015.
Günter Lucks / Harald Stutte: Zehn Tage im Juli. Wie ich den Bombenkrieg auf Hamburg überlebte, 2020.
Alle Bücher sind beim Rowohlt Verlag in Hamburg erschienen.