Gewerkschaftsgeschichte

Störrische Gehilfen

Warum die Presse zeterte, der Verbandsvorsitzende in den Knast kam, die Arbeitgeber lieber weiterhin Mann gegen Mann verhandelt hätten und wie die Buchdrucker und Schriftsetzer 1873 den ersten Flächentarifvertrag erstritten.

»Schau an, jetzt schreibt der verehrte Herr Dr. Brockhaus schon selbst.« Richard Härtel hielt den Brief des Buchdrucker-Vereinsvorsitzenden vom 22. März 1873 in den Händen. Noch wichtiger als der Absender war jedoch der Inhalt: Die Druckereibesitzer signalisieren Zustimmung zu Vorschlägen der Gewerkschaft. Bringt das den Durchbruch auf dem Weg zum reichsweiten Tarif?

Vor 150 Jahren unterschrieben und heute noch Grundlage des Tarifvertrags
Zeichnungen: Yannick Heller

Tatsächlich ist die Lage gerade reichlich festgefahren. Das weiß Richard Härtel, Präsident des gewerkschaftlichen Deutschen Buchdruckerverbandes und zugleich Redakteur des Verbandsblatts Correspondent, nur zu gut. Seit Ende Januar haben Setzer- und Schriftgießergehilfen zuerst in Leipzig und dann landesweit ihre Stellen gekündigt, um zu streiken. Die Druckereibesitzer spitzen die Lage weiter zu: Zuletzt verfügten sie eine allgemeine Aussperrung. Aktuell stehen in 66 Druckorten – von Augsburg bis Zwickau – 1.800 Gehilfen auf der Straße – nur wegen ihrer Verbandszugehörigkeit. Ihre Stimmung ist kämpferisch. Doch wie weiter?

Keine 15-Stunden-Tage mehr!

Härtel, als Verbandschef weithin anerkannt, aber auch ein echter Dickschädel, weiß genau, dass die Forderungen seiner Kollegen mehr als berechtigt sind. Sie wollen, dass Schluss ist mit 13- oder gar 15-Stunden-Tagen im Akkord. Als Jünger der Schwarzen Kunst verlangen sie ordentliches Geld für qualifizierte Arbeit. Und sie wollen keinen tariflichen Flickenteppich, wie er ihnen bisher auf der Wanderschaft in den verschiedenen Druckorten begegnet – abhängig von lokalen Regelungen oder vom Wohlwollen einzelner Druckereibesitzer, den Prinzipalen. Die Facharbeiter fordern endlich einen allgemeinen Tarif. Etwa so, wie er schon während der Revolutionstage 1848 zur ersten National-Buchdruckerversammlung in Mainz vorgeschlagen worden ist.

Jetzt, nach der Gründung des Deutschen Reiches und in Zeiten guter Konjunktur, scheint das möglich. Eine Delegiertenkonferenz der Gehilfen aus allen Landesteilen hat zu Jahresbeginn konkrete Forderungen formuliert: Der Tarif soll künftig einheitlich nach den Kleinbuchstaben des zu setzenden Alphabets berechnet werden. Ein Akkord-Stücklohn von 30 Pfennigen für 1.000 Buchstaben wird verlangt oder ein Minimum »im gewissen Gelde« für 66.000 Buchstaben, also ein wöchentlicher Mindestlohn. Die tägliche Arbeitszeit soll auf zehn Stunden begrenzt werden, zwei Pausen inbegriffen.

Der Vorschlag ist dem Arbeitgeberverein am 22. Januar vorgelegt worden. Die Absage kommt prompt. Mehr noch als die einzelnen Forderungen missfällt den Druckereibesitzern, dass sie mit dem Verband ihrer Gehilfen verhandeln sollen, nicht mehr im eigenen Offizin Mann gegen Mann. Und freilich, ja, auch die mit der neuen Alphabet-Berechnung zu erwartenden Lohnsteigerungen – örtlich bis zu 12,4 Prozent – wollen viele Prinzipale vermeiden. Sie kontern mit einem eigenen Tarifentwurf. Und die Scharfmacher unter ihnen setzen das mit der Aussperrung durch.

Nun aber ist die Tariffrage doch auf der höchsten Verbandsebene von Gehilfen und Druckereibesitzern angekommen. Es steht ein »Hochachtungsvoll Dr. Eduard Brockhaus« unter dem Brief an Härtel.

Richard Härtel, Vorsitzender des gewerkschaftlichen Buchdruckerverbandes (1866 gegründet) und ein echter Dickschädel

Dr. Eduard Brockhaus, Verleger und Vorsitzender des Deutschen Buchdruckervereins (1869 gegründet)

Die Brücke, die die Gewerkschaft den Arbeitgebern Tage zuvor gebaut hat, scheint gangbar. Es sei nicht nur »durchaus nothwendig«, dass sich sowohl Gehilfen wie Prinzipale organisieren, sondern auch dass sich beide Organisationen in grundlegenden tariflichen Fragen »zu verständigen suchen«. So hat Härtel selbst an die Druckereibesitzer appelliert.

Der konkrete Vorschlag lautet: Beide Verbände sollten an ausgewählten Orten wie Berlin, Breslau, Köln, Frankfurt am Main, Hamburg, Leipzig, München und Stuttgart auf allgemeinen Versammlungen »mittelst geheimer Abstimmung« Delegierte wählen, die die zwei Tarifentwürfe prüfen und einen gemeinsamen Vorschlag aushandeln sollten. Solch ein Vorgehen sei dem »Grundgedanken nach geeignet«, heißt es nun von Verleger Brockhaus.

Das zeugt immerhin von Realismus. Auch Brockhaus meint, dass ein Tarif »erst dann einen eigentlichen Werth bekommt, wenn er von der gesammten Gehilfenschaft anerkannt und überall eingeführt wird«. Praktisch spitzt sich das, was Richard Härtel im Verbandsblatt Correspondent als einen »Kampf um die Gleichberechtigung von Kapital und Arbeit« bezeichnet hat, noch weiter  zu. Gewerkschaftsvorstand und lokale Vereine der Buchdrucker- und Setzer-Gehilfen agieren koordiniert. In Berlin, wo bereits ein besserer Tarif gilt, wird etwa gar nicht gestreikt. Doch spenden die Kollegen an der Spree für die im Ausstand – am Ende 42.000 Mark. Insgesamt sammelt die Gewerkschaft im In- und Ausland 136.800 Mark Unterstützungsgelder. Eine Streikkasse gibt es in der jungen Gewerkschaft noch nicht.

Ehrenhafte Kollegen begehen keinen Streikbruch

Auch wenn die bürgerliche Presse wettert, »störrische Gehilfen« etwa durch »arbeitswillige und gelehrige Mädchen« zu ersetzen, hält die Streikfront. »Wir erwarten, dass kein ehrenhafter Kollege« in Leipzig eine Anstellung »annimmt«, hat Richard Härtel bereits früh vor Streikbrechern gewarnt. Die Gewerbe-Polizeibehörde sieht »Ehrverletzung« und schickt ihn dafür sechs Wochen ins Gefängnis. Ab Anfang April kann der Gewerkschaftsvorsitzende den Tarifkampf nur noch aus der Zelle begleiten. Er erkennt, dass die Partei der Prinzipale wankt. Waren im März etwa in Stuttgart 154 Gehilfen ausgesperrt, sind es einen Monat später nur noch 14.

So wird schließlich tatsächlich verhandelt. Die Delegierten beider Seiten debattieren ab 1. Mai fünf Tage lang in Leipzig. Es gibt Misstrauen, immer wieder wird um einzelne der 30 Paragrafen gesondert beraten. Doch am 8. Mai liegt ein Papier vor, mit dem alle einverstanden sind. Auch beide Verbandsvorstände stimmen schon am Folgetag zu. Der »Delegiertentarif« trete sofort in Kraft, erklärt die Gewerkschaft. Die Vertrauensmänner der Buchdrucker in der Messestadt bestätigen kurz darauf: »Der Streik in Leipzig ist beendet. Auf die erzielten Resultate dürfen wir mit Befriedigung blicken.«

»Der Streik in Leipzig ist beendet.« So lautete am 17. Mai 1873 der erste Satz im Correspondent, der Gewerkschaftszeitung des Buchdruckerverbandes, der ältesten Vorläuferorganisation von ver.di.
Faksimile: ADSD

Klug taktiert, machtvoll gestreikt

Selbst Richard Härtel und seinen hellsichtigsten Kollegen wird im Frühjahr 1873 kaum klar gewesen sein, was ihnen da gelungen war: eine großflächige Tarifeinigung durch paritätisch besetzte Verhandlungskommissionen mit bisher nie gekannten Mitbestimmungsmöglichkeiten. Auf Gewerkschaftsseite dank kluger Taktik und landesweiter Solidarität errungen. Es war ein »Wechsel auf die Zukunft« und beispielgebend nicht nur für die Druckbranche. So schätzte das ver.di-Vorsitzender Frank Werneke jetzt zum 150. Jubiläum ein: »Damals wurden Grundzüge für das bis heute gültige Tarifvertragssystem entwickelt.« Und es sei aktuell umso wichtiger, wieder für mehr Tarifbindung in Deutschland zu streiten.

Weitere Informationen und Videomaterial zum Jubiläum: t1p.de/150-fl-t-vertrag