Prekäre Arbeit

»Manchmal stinkt es mir, so wenig Geld zu haben«

Von Beruf Zeitungszustellerin | Arbeiten, wenn andere schlafen | Unsichtbar und schlecht bezahlt

Pünktlich um 2 Uhr in der Nacht bremst Marit Bogner (Name geändert) ihr Rad aus voller Fahrt und rollt ins Tiefgeschoss. Dort hat die Agentur, bei der sie angestellt ist, zwei Garagen gemietet. Als Teamleiterin kommt Marit vor den anderen Zeitungszusteller*innen und bereitet die Arbeit vor. Wie so oft an Donnerstagen trifft der Lieferwagen aus der Druckerei heute spät ein, es ist nach 3 Uhr. Die Zusteller*innen mit den neuen Verträgen haben dann Pech. Wartezeit wird erst ab 3.30 Uhr gezahlt. Und wer nicht rechtzeitig fertig ist und nach 6 Uhr immer noch Zeitungen steckt, bekommt von dieser Zeit an keinen Nachtschichtzuschlag.

Die Zusteller*innen hieven die Pakete aus dem Wagen und sortieren die Zeitungen für ihre Tour – auf dem Boden, überm Zustellwagen, auf dem Tisch: Berliner Morgenpost, taz, NZZ, Süddeutsche Zeitung, Handelsblatt, Tagesspiegel, FAZ, Junge Welt, Berliner Zeitung. Heute ist auch der Katalog einer Parfümeriekette dabei – persönlich adressierte Exemplare. Marit macht die Augen zu, läuft im Kopf ihre Tour ab und legt die Kataloge in die richtige Reihenfolge. Wortlos macht sich einer nach dem anderen auf den Weg.

Gegen 4 Uhr startet auch Marit. Sie prescht über Bürgersteige, quert Straßen, huscht durch Eingänge, sprintet Treppen nach oben. Wer mit ihr Schritt halten will, muss rennen.

Das Tourenbuch? Icke? Brauche ich nicht. Ich kenne die Straßen und Häuser auswendig, die Türcodes auch. Hält den Kopf fit! Mein Wecker klingelt um 1.10 Uhr. Manchmal drei Mal, manchmal sieben Mal, bis ich aufstehe. Kaffee? Nee. Trinke ich keinen vor der Arbeit. Das macht die Blase nicht mit. Zwei, drei Stellen gibt es, wo ich vielleicht aufs Klo könnte. Ist ja alles geschlossen. Aber Pinkeln kostet Zeit. Die hab’ ich nicht.

Sie klemmt sich den nächsten Packen untern Arm, spurtet los. Dem Wagen gibt sie einen kräftigen Schubs, sodass er an der Terrasse des Edelrestaurants mit den weiß gedeckten Tischen vorbeirollt. Eine feine Gegend. Mit Messing beschlagene Holztüren, mit Teppich bezogene Treppen, Stuck an der Decke, Schilder mit goldenen Buchstaben. Es ist noch nicht lange her, da hatten es Diebesbanden auf die Schlüsselbunde der Zusteller*innen abgesehen, um in die Kanzleien, Praxen, Luxuswohnhäuser einzudringen. Kolleg*innen wurden überfallen und verletzt. »Die Schlüssel sind am Körper zu tragen«, war das Einzige, was der Agentur dazu einfiel.

Musik höre ich gern bei der Arbeit. Aber nur mit einem Kopfhörer, nicht mit zweien. Ich muss wissen, was um mich herum passiert. Man muss schon wachsam sein. Musik lenkt auch von der Arbeit ab. Ich muss mich konzentrieren. Sonst bin ich zwar am richtigen Haus, aber stecke die Zeitung in den falschen Kasten.

Auch sie musste sich schon wehren. Manchmal ist auch der Wagen weg. Wenn sie Glück hat, hat ihn ein Spaßvogel nur eine Straße weiter geschoben. Oder es sitzt jemand drin und lässt sich vom Kumpel kutschieren. Dann muss sie verdreckte und zerrissene Zeitungen in die Kästen stecken. Früher gab es für solche Fälle zusätzliche Zeitungen. Heute nicht mehr.

Marit schimpft leise vor sich hin. Sie hat Die Zeit vergessen mitzunehmen. Die kommt nur donnerstags, das ist außerhalb der Routine. Also noch einmal: durch den Hof, nach hinten ins Gartenhaus, vierter Stock, Altbau. In Berlin bekommt jemand die Zeitung auf Wunsch vor die Haustür gelegt. Im Laufschritt kehrt sie zurück, schnauft und schwitzt.

Das ist mir früher nicht passiert. Diese Unkonzentriertheit. Muss am Schlafmangel liegen. Früher konnte ich gut schlafen, wenn ich morgens heimkam, oft bis mittags. Heute wache ich nach anderthalb Stunden auf. Ich bin jetzt 58. Ob ich das noch neun Jahre bis zur Rente durchhalte? Das kann ich mir nicht vorstellen.

Es gibt Tage, da geht es nicht ohne Schmerzmittel. Mehr als ein halbes Jahr war sie krankgeschrieben. Jetzt hat sie Schulden. Weil das Krankengeld so niedrig war, wurde ihr erstmals Wohngeld gezahlt. Marits Lohn ist an der Grenze – zu viel, um mit Hartz IV aufzustocken, zu wenig, um mal in den Zoo zu gehen, sich ein Eis zu leisten, nach Ostfriesland zum Grab der Mutter zu fahren. Marit bekommt im Monat um die 1.200, 1.300 Euro netto. Für 24 Arbeitsstunden pro Woche. Ihre Miete in der Genossenschaftswohnung kostet 443 Euro.

Arm? Nee. Das bin ich nicht. Aber mir stinkt es manchmal, so wenig Geld zu haben. Weil ich mir nichts zurücklegen kann. Es wäre auch schön, wenn das Olivenöl nicht so teuer wäre, ich esse gern Salat. Oder mal Fisch oder ein Stück Fleisch. Geht alles nicht. Ich finde, ich habe mehr Geld verdient. Es ist eine anstrengende Arbeit an sechs Tagen pro Woche.

Noch vor etwa 20 Jahren hat Marit auf dieser Tour 500 Zeitungen verteilt, heute sind es noch 120. Damals wurde Stücklohn bezahlt, wenige Cent pro Zeitung. Mit dem gesetzlichen Mindestlohn wird der Lohn nach Zeit berechnet – aber nicht die Zeit, die jemand tatsächlich braucht, sondern die per Software simulierte. Kündigt ein Kunde das Abonnement, wird die Zeit gekürzt und damit der Lohn. Auch wenn die Straße trotzdem abgelaufen werden muss. Mit jeder Erhöhung des Mindestlohns werden die Touren kürzer, kritisieren die Betriebsräte der Berliner Zustellagentur. Die letzte Tourenkürzung hat Marit um die 200 Euro Bruttolohn gekostet. Und doch bleibt sie.

Ich will keine andere Arbeit. Ich bin an der frischen Luft, dauernd in Bewegung und niemand kontrolliert mich. Ich kann die Arbeit machen, wie ich es für richtig halte.

ver.di-Infos für Zeitungszusteller*innen und Betriebsräte: zeitungszusteller.verdi.de

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