Lesegeschichte

Einmischen, Haltung zeigen

Das Klingspor Museum in Offenbach: Neue Dauerausstellung mit historischen Kulturschätzen aus der Schriftgießerei | Wer will, kann selbst Buchstaben entwerfen

Mitten aus dem Protest der Black-Lives-Matter-
Bewegung in New York mailte der Aktionskünstler Marshall Weber an Museumsdirektor Soltek: Während er diese Worte schreibe, kreisten die Hubschrauber der Rassisten über der Stadt. Weber hatte vor einigen Jahren eine Ausstellung im Offenbacher Museum. Weil Soltek das sehr bewegte, hat er kurzerhand ein paar Zeilen an die »lieben Zaungäste« dazugeschrieben. Das Banner ist nur noch auf Fotos zu sehen, es wurde zerstört. Foto: Klingspor Museum

Kurz nach dem Mord an dem Afro-Amerikaner George Floyd durch einen Polizisten in den USA hat der Direktor des Klingspor Museums in Offenbach, Stefan Soltek, ein riesiges Plakat an den Metallzaun vor dem Eingang gehängt: Darauf ein Foto von einer Black-Lives-Matter-Demonstration in New York, außerdem ein paar Zeilen an die »lieben Zaungäste«. Ein Statement. Bis jemand nachts das Banner zerstörte. »Jetzt überlegen wir uns etwas Neues.«

Für Soltek steht fest, dass sich Schrift einmischen und Position beziehen soll. Aktuell ruft das Museum dazu auf, sich für den Rudo-Spemann-Preis für innovative Schriftkunst zu bewerben. Das Motto: »Ich will mir Luft machen.« Ob Flugblatt, Flyer oder Transparent: Ausgezeichnet wird eine schriftkünstlerische Äußerung, die einen Notstand benennt und sichtbar macht.

»Schrift ist der Gesellschaft zugewandt«, betont der Kunsthistoriker. Das Museum zeigt historische Entwürfe und Schriftproben aus dem Nachlass der Schriftgießerei von Karl Klingspor. Die Schriftgießerei in Offenbach legte vor über 120 Jahren die Grundlage dafür, dass Schrift neue Einflussmöglichkeiten bekam. Bis heute.

Kräftige Farben auf edlem Papier

Klingspor habe Anfang des 19. Jahrhunderts zum ersten Mal bekannte Künstler eingeladen, eigene Schriften zu entwerfen, berichtet Marc Schütz. Er ist Professor für Typografie an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach, mit der das Klingspor Museum zusammenarbeitet. »Heute würde man Designer sagen.«

Diese neuen Schriften verkaufte die Schriftgießerei als Bleisätze an Druckereien. Dementsprechend aufwendig sind die Schriftproben gestaltet, mit kräftigen Farben auf edlem Papier. »Das waren quasi Werbehefte, mit denen die Schriftgießerei zeigte, was sie draufhat.«

Soltek, der Museumsdirektor, hält zwei besonders wertvolle Exemplare unter dem Arm. Eines davon ist eine Schriftprobe von Peter Behrens, der als Architekt und Designer maßgeblich den Bauhausstil prägte. Als Soltek behutsam den grauen Einband aufschlägt, riecht es leicht nach altem Papier, er blättert durch die Seiten voller Buchstaben und Zahlen im Jugendstildesign. Im Vorwort schreibt Behrens 1902, er sei auf der Suche nach einer Schrift, die »durch den Geist unserer Zeit gestempelt« sei. »Ein wunderbarer Anspruch«, findet Soltek. Das andere Büchlein zeigt Entwürfe von Rudolf Koch, dessen Schriften es zu Weltruhm brachten. Fachleute seien schon extra aus Japan, Australien und den USA angereist, um die Originale anzusehen.

»Die Schriftproben sind eine unglaublich tolle Quelle an Inspiration«, erklärt der Typo-grafie-Professor Schütz. »Ein Kulturschatz.« Eine Jugendstilschrift wie die Eckmann-Schrift sei damals »irre« gewesen, eine Weltsensation, vor allem in Kontrast zu den gängigen Frakturschriften. »Die Schrift hat ein ganz anderes Zeitgefühl vermittelt.« Wie würde so eine Schrift heute aussehen? Jedes Jahr würden 1.000 neue Schriften erfunden. Viele Firmen verfügten über eine eigene Hausschrift. »Weil sie darüber erkennbar werden.«

Vor knapp drei Jahren gründeten die Hochschule und das Klingspor Museum gemeinsam das Institut für Schriftgestaltung. Davon profitieren alle: Studierende digitalisieren die Bestände; dafür haben sie Zugang zur Sammlung und dürfen Räume im Haus für eigene Ausstellungen und Seminare nutzen. »Wir wollen die Entwürfe in einer Datenbank zugänglich machen«, sagt Schütz.

Mit Schilfrohr grüne Buchstaben malen

All die Jahre konnten Besucher*innen die Objekte nur im Lesesaal der Bibliothek anfordern. Der Grund: Papier ist extrem lichtempfindlich. Doch seit vergangenem Herbst verfügt das Museum über eine Dauerausstellung. Zum Schutz der Bestände wird regelmäßig eine Seite umgeblättert oder ein anderes Heft gezeigt. Auf zwei Etagen bietet das Haus einen Überblick über Schriftgestaltung, Grafik und Illustration sowie Buchkunst im 20. Jahrhundert. Zudem lagern im Depot über 80.000 Werke zu Buch- und Schriftkunst.

Inspiriert von den Objekten, können die Besucher*innen in der Ausstellung selbst zur Feder oder zum Filzstift greifen und eigene Buchstaben entwerfen. Oder am Bildschirm die Linien verändern und so erleben, wie sich der Charakter von Schrift verändert. »Unser Museum ist für alle da«, erklärt der Leiter. Alleine im Vorjahr bot das Museum rund 320 Veranstaltungen an, darunter Schreibkurse für Kitas und Schulen.

In einem Anfängerkurs für Kalligrafie pinselt die Lehrerin schwungvoll Linien aufs Papier und erklärt, wie sich Schrift entwickelt hat. Das Ziel: »Spaß am Schreiben.« Die Teilnehmer*innen malen mit Schilfrohr grüne Buchstaben aufs Blatt. Für Katharina, 32, ist Kalligrafie ein Hobby. »Es entspannt mich.« Die junge Frau zeigt ihr selbst gestaltetes Notizbuch mit kleinen Zeichnungen, Notizen und Terminen, auch Bullet Journal genannt.

Notizbuch basteln

Im Sommer hatte das Team des Museums draußen an den Zaun kleine Tüten zum Mitnehmen gepinnt. Darin steckte alles, was es zum Basteln eines Notizbuchs braucht – plus Aufforderung, ein paar Worte zu Papier zu bringen. Soltek: »Schrift eröffnet einen Weg, sich selbst darin zu finden.«

Die Autorin hat das Museum vor dem Shutdown besucht.

Das Team in der interaktiven Spielwiese der Dauerausstellung. Foto: Klingspor Museum