Corona-Krise

Corona-Protokoll

Die Nachrichtenlage ändert sich in diesen Tagen rasant. Auch in den Betrieben.
Was in der Görres-Druckerei in Neuwied seit Mitte März passiert ist, hat Thomas Dörr für DRUCK+PAPIER aufgeschrieben.

19. März Es brechen immer mehr Aufträge weg. Die Kunden stornieren den Druck von Katalogen und Veranstaltungsflyern. Es gehen kaum noch neue Bestellungen ein.

21. März Zum Glück ist niemand aus der Belegschaft krank. Zwei Kollegen haben sich freiwillig in häusliche Quarantäne begeben, weil sie oder ihre Kinder eventuell Kontakt zu Corona-Infizierten hatten.

23. März Heute ist der erste Tag der Kurzarbeit. Die Firma hat sie für ein Jahr beantragt. Alle hoffen, dass wir das nicht ausschöpfen müssen. Denn die Beschäftigten bekommen nur 60 Prozent des Nettolohns – mit Kindern 67 Prozent. Das ist eine heftige Einbuße. Aufstockungen wie in anderen Betrieben gibt es bei uns nicht.

Deshalb haben wir vom Betriebsrat mit der Geschäftsleitung vereinbart, dass wir die Kurzarbeit gleichmäßig verteilen. In meinem Fall sieht das so aus: Mein Kollege aus der Vorstufe arbeitet drei Tage voll, erhält also 100 Prozent, und ich bin zu Hause. Dann tauschen wir.

Thomas Dörr, 
Betriebsrats
vorsitzender 
der Görres-Druckerei 
in Neuwied

25. März Unser Haustarifvertrag sieht die dritte und letzte Stufe vor: Ab 1. April soll eine halbe Stunde pro Woche weniger gearbeitet werden. Wir wären wieder bei der 35-Stunden-Woche. Außerdem sind 60 Euro Lohnerhöhung fällig. Die Geschäftsführung bittet ver.di, wegen Krise und Kurzarbeit die Erhöhung bis zum Jahresende zu verschieben.

26. März
Alles fühlt sich noch immer unwirklich an. Es arbeiten gerade mal fünf bis sieben Kolleg*innen in einem Großraumbüro, das Platz für 22 bietet. Der überwiegende Teil der Beschäftigten ist im Homeoffice. Die Schichten im technischen Bereich, also Druck, Weiterverarbeitung und Lager/Versand, wurden so gelegt, dass es keine Überschneidungen gibt. Die Kolleg*innen sollen sich möglichst wenig begegnen, um die Ansteckungsgefahr zu reduzieren. Praktisch bedeutet das: Die Frühschicht verlässt um 14 Uhr die Druckerei, die Spätschicht beginnt eine Viertelstunde später.

In der Telefonkonferenz mit der Tarifkommission und ver.di beschließen wir, dem Unternehmen Verhandlungen anzubieten. Wir fordern: Für die Aufschiebung der dritten Tarifstufe bis zum Jahresende soll die Geschäftsleitung das Kurzarbeitergeld auf 100 Prozent aufstocken. Wir wollen, dass das Unternehmen die eingesparten Sozialbeiträge an die Belegschaft weiterreicht.

27. März
Zum Glück gibt es (noch) keinen Corona-Fall in der Firma. Die Weiterverarbeitung ist ausgelastet, beide Druckmaschinen laufen. Es werden noch die Aufträge aus der Zeit vor der Krise abgearbeitet. In Vertrieb und Vorstufe tröpfelt es allerdings zunehmend.

In unserer Region haben große Autozulieferer wie ZF in Neuwied oder Stabilus in Koblenz ebenfalls Kurzarbeit angemeldet, auch die größte Regionalzeitung in Rheinland-Pfalz, die Rhein-Zeitung. Was sollen Sportredakteur*innen berichten, wenn kein Sport stattfindet?

Um 13.30 Uhr antwortet uns die Geschäftsleitung: Man wolle nicht in Verhandlungen über andere Themen eintreten. Die dritte Stufe des Tarifvertrages wird demnach umgesetzt. Damit ist allerdings auch die Aufstockung des Kurzarbeitergelds vom Tisch.

30. März
Die Geschäftsführung hat alle Beschäftigten in eine Messenger-Info-Gruppe aufgenommen. Uns wird mitgeteilt, dass der Auftragseingang in den letzten Tagen leider nahezu ausgeblieben sei. Daher würden nach erfolgtem Stundenabbau nach und nach weitere Kolleg*innen in Kurzarbeit gehen müssen. Wie lange diese Phase anhalten werde, hänge von der Gesamtentwicklung zum Thema Corona ab.

Die 8-Farben-Druckmaschine werde nach Rücksprache mit Heidelberg für April außer Betrieb genommen, um Kosten zu sparen, teilt die Geschäftsleitung weiter mit. Alle eingehenden Aufträge würden auf der neuen Maschine produziert. Diese sei jedoch auch nur ein- bis zweischichtig ausgelastet.

Der Subskriptionsvertrag, den die Görres-Druckerei mit Heidelberger Druckmaschinen hat, erweist sich nun als schwerer Ballast. Beim Geschäftsmodell Subskription baut Heidelberg Druckmaschinen und geht damit in Vorleistung, um dann in einer Art Leasing über fünf Jahre Gewinne zu generieren. Außerdem liefert uns Heidelberg Software, Schulung, Wartung und Verbrauchsmaterialien. Dafür bezahlt die Görres-Druckerei jeden Monat viel Geld.

31. März
Heute wurden die neuen Arbeitszeiten ausgehangen. Ab 1. April gilt wieder die 35-Stunden-Woche. Das hat jetzt in der Kurzarbeit etwas an Bedeutung verloren. Und trotzdem: Für mich, der als junger Schriftsetzergeselle 1984 im längsten Streik der Druckindustrie die 35-Stunden-Woche mit erstreikt hat, ist das ein gutes Gefühl. Die jahrelange, unbezahlte Mehrarbeit ist endlich Geschichte!

2. April
Die 50-prozentige-Anwesenheit ist nicht mehr zu halten. Der Vertrieb wird auf ein Viertel reduziert; die Kolleg*innen sollen nach Bedarf im Homeoffice aktiviert werden. Für mich in der Vorstufe ist zunächst einmal komplett Kurzarbeit bis Ostern angesagt. Unser ver.di-Sekretär, Michael Holdinghausen, besucht den Betriebsrat am Nachmittag. Viel Optimismus kann er leider auch nicht verbreiten. Bei den Mitgliedsbeiträgen gibt es während der Kurzarbeit 50 Prozent Entlastung, wenigstens ein kleines Trostpflaster.

7. April
Mein Teamchef hat mir heute auf meine Mailbox gesprochen. Es sei absolut kein Auftragseingang zu verzeichnen, weder Satzarbeiten noch Korrektorate seien für mich da. Erst für den 16. April habe er mich wieder eingeplant. Dann kämen die Daten für einige Periodika, die am Monatsende in Druck gehen. Aus den anderen Abteilungen kommen ähnliche Meldungen: keine Arbeit. Die erhoffte Beschäftigung von 50 Prozent ist nicht zu halten. Insbesondere für Kolleg*innen in den niedrigen Lohngruppen werden die 60 (mit Kindern 67) Prozent Kurzarbeitergeld eine große Belastung. Sie müssen mit Hartz IV aufstocken. Rückblickend kann ich mich in den fast 43 Berufsjahren in der Druckindustrie an keine vergleichbare Situation erinnern. Ob technologische Veränderungen, lange Streiks, Rationalisierungswellen, Zeitungs- und Druckereisterben – die Corona-Krise ist gefühlt anders. Ausgang offen …

16. April
Paradox, dass ich in der Nacht oft vom alten Leben träume und am Morgen in der neuen Normalität aufwache. Vor fast zehn Tagen habe ich zuletzt gearbeitet. In Vor-Corona-Zeiten war das schon ein veritabler Urlaubszeitraum. Beim frühmorgendlichen Rundgang treffe ich auf wenige Kolleg*innen. Die Weiterverarbeitung – zu normalen Produktionszeiten vollgestellt mit gedruckten Paletten – erinnert jetzt eher an eine unbenutzte Turnhalle.

Später erfahre ich vom Juniorchef, dass der Auftragseinbruch fast 80 Prozent betrage, dies sei zurzeit in fast allen Druckereien bundesweit der Fall. Zur Überbrückung habe die Geschäftsführung einen Kredit bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau beantragt. Laufende Verpflichtungen für die Druckmaschinen würden von der Firma Heidelberg und der Hausbank ausgesetzt. Wir spekulieren über die Zeit nach dem Lockdown: Wird die Auftragslage dann wieder anziehen und wird das noch dieses Jahr passieren? Vielleicht ist die vorsichtige Öffnung im Einzelhandel eine Chance auf neue Aufträge.

23. April
Mit einer guten Nachricht aus dem Radio beginnt der Arbeitstag. Die große Koalition hat sich in der vergangenen Nacht auf eine Erhöhung des Kurzarbeitergeldes geeinigt. Ab dem vierten Monat in Kurzarbeit – allerdings erst ab mindestens 50 Prozent Arbeitsausfall – gibt es eine Aufstockung auf 70 (für Eltern 77) Prozent, ab dem siebten Monat auf 80 (für Eltern 87) Prozent des pauschalierten Nettolohns. Ich bin überzeugt, dass die Beschäftigten der Görres-Druckerei das auch brauchen werden. So wie sich die Auftragslage heute darstellt, wird uns die Krise noch mindestens bis Ende des Jahres begleiten.

Schwierig ist es, die Arbeit gleichmäßig zu verteilen. Geringer qualifizierte Kolleg*innen und Hilfskräfte können nicht flexibel genug eingesetzt werden. Oft fehlt das Know-how für die Maschinen. Als Betriebsrat versuchen wir, das über die wöchentlichen Arbeitsverteilpläne zu erkennen und abzumildern. Die Lohnabrechnung für März mit nur wenigen Kurzarbeitertagen lässt schon schmerzlich erahnen, wie gering das Einkommen in den vor uns liegenden Monaten sein wird. Immer stärker erinnert mich die Corona-Krise an Don Quichottes Kampf gegen die Windmühlen. Das zentrale Thema in Cervantes’ Roman ist die Frage, was in unserer Umwelt Wirklichkeit oder Traum ist. Diese Frage stelle ich mir mittlerweile täglich …