Der Chef muss Ja sagen
Neues Arbeitszeitmodell beim Mischkonzern Giesecke+Devrient | Vollzeitkräfte können wählen | Arbeit, die zum Leben passt
Mal mehr arbeiten, mal weniger – die Wahlmöglichkeit setzen Gewerkschaften in immer mehr Branchen durch. Zwischen 32 und 40 Stunden wählen – das gibt es in der Chemie-
industrie in vier ostdeutschen Bundesländern und Berlin. Beschäftigte in der Metall- und Elektroindustrie haben die Möglichkeit, ihre Arbeitszeit befristet auf 28 Stunden zu reduzieren und danach wieder auf Vollzeit aufzustocken. Beschäftigte in Schicht, mit kleinen Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen erhalten acht zusätzliche freie Tage.
In wenigen Wochen wird auch bei Giesecke+Devrient (G+D) ein branchenweit einzigartiges Modell gelten. Die Beschäftigten der G+D Holding und der Currency Technology in München – zusammen mehr als 1.200 – können ab 2020 ihre Arbeitszeit zwischen 30 und 40 Wochenstunden wählen. Wie es zu ihrem Leben passt. Sie können ihre Arbeitszeit reduzieren, ohne dass das Unternehmen es ihnen abschlagen kann. Ausgenommen sind lediglich Auszubildende, dual Studierende, Außendienst- und Außertarifbeschäftigte. Wie das funktioniert, wird an zwei fiktiven Beispielen deutlich.
Marie Rosner, Softwareentwicklerin, ledig, hat die 40-Stunden-Woche satt. Weil sie mehr Zeit braucht, um für den Marathon zu trainieren, informiert sie die Personalabteilung, dass sie künftig nur noch 32 Stunden arbeiten wird. Auf Empfehlung des Betriebsrats reduziert Marie Rosner ihre Arbeitszeit zunächst befristet für zwei Jahre. Denn vielleicht will sie irgendwann wieder länger arbeiten.
Selbstbestimmt
Die Personalabteilung muss dem Wunsch der Softwareentwicklerin zustimmen. Eine Ablehnung ist im Tarifvertrag nicht vorgesehen. »Das war uns besonders wichtig«, sagt Eva Schäflein-Bohsewe, Betriebsratsvorsitzende von Currency Technology und Mitglied der betrieblichen Tarifkommission. Denn immer wieder hätten sich einige Vorgesetzte gegen Wünsche von Beschäftigten gesperrt, obwohl die Reduzierung der Arbeitszeit nach dem Teilzeit- und Befristungsgesetz jederzeit möglich ist. Unternehmen und Betroffene müssen sich nur einigen, wie die vier Arbeitstage über die Woche verteilt werden.
Ein Blick in die Zukunft: Sven Bogner, verheiratet, zwei Kinder, hat im Jahr 2020 bei Giesecke+Devrient eine Stelle als Projektmanager mit 31 Wochenstunden angetreten. Zufrieden ist er damit nicht, denn der Verdienst ist ihm zu niedrig. Auf Rat des Betriebsrats nahm er die Stelle dennoch an. Denn ab seinem zweiten Jahr beim Unternehmen kann er die Arbeitszeit erhöhen. Allerdings nur ein einziges Mal ohne Zustimmung des Unternehmens. Er wird sich auf 40 Stunden hochsetzen lassen. Er hat ja die Möglichkeit, seine Arbeitszeit wieder zu reduzieren.
Zwei Jahre hat ver.di bei Giesecke+ Devrient sondiert und verhandelt, bis der Firmentarifvertrag mitsamt Entgelt, Eingruppierung, Arbeitszeit und mobiler Arbeit unterschrieben war. »Herzstück des Tarifvertrags ist die Möglichkeit für die Kolleginnen und Kollegen, souverän über ihre Zeit zu bestimmen«, sagt Tarifkommissionsmitglied Cornelia Weidele aus der G+D Holding. Das war laut einer ver.di-Befragung auch ein häufig genannter Wunsch der Belegschaft.
Im Gegenzug musste ver.di dem Unternehmen bei der Samstagsarbeit entgegenkommen. Danach darf das Unternehmen pro Person bis zu 13 Mal Samstagsarbeit im Jahr anordnen. Freiwillig können die Beschäftigten an weiteren zehn Samstagen arbeiten. Dafür gibt es einen freien Tag. Kurzum: am Samstag bei schlechtem Wetter arbeiten und am Dienstag in die Berge.
32 Stunden für Schichtarbeit sind genug
Kürzere Arbeitszeiten liegen bei Beschäftigten und Gewerkschaften im Trend. Warum das so ist, erklärt Arbeitszeitforscher Gerhard Bosch. Eine 32-Stunden-Woche für alle befürwortet er dennoch nicht – außer für Schichtarbeitende.
Viele Betriebe klagen darüber, dass ihnen Arbeitskräfte fehlen. Wäre es eine Idee, mit kurzen Arbeitszeiten zu werben?
Gerhard Bosch: Auf jeden Fall. Viele Beschäftigte wünschen sich kürzere Arbeitszeiten und solche, die zu den unterschiedlichen Lebensphasen und Lebenslagen passen. Wer sich um kleine Kinder kümmert oder eine Weiterbildung macht, will kürzertreten; wer beruflich einsteigt, will vielleicht länger arbeiten und später wieder kürzer. Das heißt aber nicht, dass junge Menschen generell viel und ältere wenig arbeiten wollen. Es ist eher ein Trend zu beobachten, dass freie Zeit wichtiger wird als der Verdienst.
Das Geld spielt keine Rolle mehr?
Bosch: Doch, natürlich. Das Geld ist die Basis. Aber Arbeit ist oft so verdichtet, dass das Bedürfnis nach Erholpausen groß ist.
Gerhard Bosch war bis 2016 geschäftsführender Direktor des Instituts Arbeit und Qualifikation (IAQ) an der Universität Duisburg-Essen und ist seitdem Senior Professor am Institut. Er beschäftigt sich unter anderem mit Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik und Arbeitszeit. Foto: privat
Muss man sich kürzere Arbeitszeiten nicht auch leisten können?
Bosch: Richtig ist, dass die kürzeren Arbeitszeiten meist selbst bezahlt sind. Es gibt keinen Lohnausgleich wie bei der 35-Stunden-Woche. Aber es ist kein exklusives Modell für hoch bezahlte Angestellte. Bei der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft, der EVG, hatten die Beschäftigten die Wahl. Über die Hälfte entschied sich für sechs Tage mehr Urlaub. Auch in anderen Tarifbereichen mit Wahlmöglichkeiten geht die Tendenz zu mehr Freizeit. Wer einmal in den Genuss einer 32-Stunden-Woche gekommen ist, will sie nicht wieder hergeben.
In der Finanzkrise wurden erst die Arbeitszeitkonten geleert, dann die Kurzarbeit verlängert. Jetzt kommt mit der Digitalisierung womöglich wieder eine Krise auf uns zu. Würden auch da kurze Arbeitszeiten helfen?
Bosch: Auf jeden Fall. Wir können stolz darauf sein, dass es vor zehn Jahren gelungen ist, die Krise ohne große Arbeitsplatzverluste zu bewältigen. Auf das Modell der verkürzten Arbeitszeit kann auch in weiteren Krisen zurückgegriffen werden, um Arbeitskräfte und Arbeitsplätze zu halten.
Und warum nicht gleich 30 Stunden für alle?
Bosch: Weil das nicht den Bedürfnissen der Menschen entspricht. Wir dürfen nicht vergessen, dass es unter den 14 Millionen Teilzeitkräfte einen hohen Anteil gibt, der gern länger arbeiten möchte. Deshalb habe ich den Begriff der kurzen Vollzeit kreiert – mehr Arbeitszeit für die einen, weniger für die anderen. Für eine generelle Verkürzung plädiere ich aber bei Schichtarbeitern: 32 oder 33 Stunden, gesetzlich verankert.
Beschäftigte wollen kürzer arbeiten, die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) will dagegen den Acht-Stunden-Tag aus dem Gesetz kippen. Wie passt das zusammen?
Bosch: Gar nicht. Ich würde den Arbeitgebern einen Deal anbieten. Der Acht-Stunden-Tag wird gestrichen und im Gegenzug gibt es die 100-prozentige Tarifbindung für alle Betriebe. Denn erst mit Tarifverträgen und Betriebsräten hätten die Beschäftigten wieder einen Schutz vor ausufernden Arbeitszeiten. Die Unternehmer wollen doch nicht nur den Acht-Stunden-Tag streichen, sondern generell diktieren, wann und wie lange jemand arbeitet.
Die Qual der Wahl: Geld oder Zeit