Wir bieten: Vier-Schicht, unbezahlte Arbeit und befristete Jobs
Betriebe der Papierverarbeitung suchen Fachleute | Sie haben aber das Nachsehen gegenüber Metall- und Chemieunternehmen, die besser zahlen | Arbeitskräftemangel ist in vielen Betrieben hausgemacht
Letztes Knistern in der Chipstüte, Licht aus, Vorhang auf. Auf der Leinwand: ein Induktionsofen, gleißend hell. Dazu eine Stimme aus dem Off: »Wir sind schon 4.400 und jetzt brauchen wir dich.« Rasant wechseln die Bilder – von Werkstücken und Maschinen zu lächelnden jungen Menschen mit Schutzbrillen, alles lupenrein sauber. »Wir bieten dir sechs verschiedene Ausbildungsberufe, Tariflohn, 30 Tage Urlaub und eine Übernahmegarantie.«
Der Kinofilm beginnt und Michael Koch ärgert sich über den Werbefilm der Vacuumschmelze in Hanau. Die sucht Azubis, lockt mit Übernahme und wird vermutlich erfolgreich sein. Michael Koch ist Betriebsratsvorsitzender des Verpackungskonzerns DS Smith in Erlensee bei Hanau. DS Smith sucht auch Azubis. Wer übernommen wird, erhält einen Arbeitsvertrag – allerdings befristet auf ein Jahr. Das Mindeste aus dem Tarifvertrag. Nicht mehr.
»Das ist doch nicht attraktiv für die jungen Leute«, sagt der Betriebsratsvorsitzende. Er fürchtet, dass Schulabgänger ihren Ausbildungsvertrag lieber bei Heraeus, Evonik Industries oder der Vacuumschmelze unterschreiben. Hanauer Betriebe der Metall- und Chemieindustrie, die besser bezahlen, mit kürzeren Arbeitszeiten punkten und unbefristet einstellen.
DS Smith in Erlensee sucht nicht nur Auszubildende, sondern auch ausgebildete Packmitteltechnologen, Maschinenführer und Schichtführer. Und bietet: eine 38-Stunden-Woche, befristete Stellen und jede Menge Leiharbeitsjobs. Fast ein Drittel der 370 Arbeitsplätze ist von Leiharbeitskräften besetzt, die nach und nach fest übernommen werden sollen. Das hat der Betriebsrat mit der Geschäftsleitung verabredet. Doch selbst Leiharbeiter erhalten bei Übernahme nur einen befristeten Vertrag – und damit eine weitere Probezeit.
Die Konkurrenz zahlt mehr
Leer gefegt – stimmt das?
»Firmen gehen die Mitarbeiter aus«, so lautet eine Überschrift im Focus. Journalist/innen, Politiker/innen und Wirtschaftsexperten reden von leer gefegten Arbeitsmärkten. Die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands sei bedroht – wirklich so schlimm? Fragen wir die Bundesagentur für Arbeit: Fehlt es an Packmitteltechnologen? Die Antwort: Nein. Von einem bundesweiten Fachkräftemangel könne nicht gesprochen werden.
Vielleicht regional? DRUCK+PAPIER hat in 19 Betrieben quer durch die Republik nachgefragt – im wirtschaftlich starken Südwesten, in Metropolregionen, im Norden und in ländlichen Gebieten, bei den Konzernen und bei Familienbetrieben. Werden Arbeitskräfte gesucht? Und woran liegt es, wenn keine gefunden werden?
Das Ergebnis: Quer durchs Land gibt es freie Stellen in der Papierverarbeitung. Doch fast überall werden die Neuen nur befristet eingestellt – Ausnahmen gibt es lediglich für Führungskräfte sowie für Elektriker und Industriemechaniker, die so rar sind, dass sie sich die Stellen mit den besten Konditionen aussuchen können. Befristungen und unbezahlte Arbeit gehören nicht dazu. Wie bei Lohmann-Koester im oberfränkischen Altendorf. Hier werden Verschlüsse für Windeln hergestellt. Es gilt ein Haustarifvertrag mit einer 38-Stunden-Woche, davon drei Stunden unbezahlt. Neue werden nur befristet eingestellt – erst ein Jahr, dann noch ein Jahr. Obwohl die Firma umzingelt ist von Metallbetrieben – das Robert-Bosch-Werk in Bamberg ist 15 Autominuten entfernt, das Schaeffler-Werk in Herzogenaurach eine halbe Stunde. »Die Firma hat kürzlich neun Fachkräfte an einen Folienhersteller in der Nähe verloren. Kollegen, die länger als zehn Jahre im Betrieb sind«, sagt Betriebsratsvorsitzender Alfred Bergmann. »Der zahlt mehr.«
Die atmende Fabrik
Papier verarbeitende Betriebe suchen händeringend Beschäftigte. Aber sie tun wenig, um den Arbeitsplatz attraktiv zu machen. Stattdessen bieten sie Bedingungen wie zu Zeiten, als sie Hunderte Bewerbungen auf eine freie Stelle erhielten, selbst auf mies bezahlte. »Unser Arbeitgeber glaubt noch immer, es sei eine Ehre, für ihn zu arbeiten«, berichtet ein Betriebsrat.
Mal ist die Probezeit sechs Monate lang, mal muss sich einer erst in Leiharbeit bewähren, bevor er eine befristete Stelle erhält, mal wird ein Maschinenführer nur in Lohngruppe 4 eingruppiert. Oder es gilt kein Tarif oder wie bei Smurfit Kappa eine 37-Stunden-Woche – davon nur 35 bezahlt, eine Stunde für die Altersvorsorge, eine unbezahlt. Manchmal haben Unternehmen auch einen schlechten Ruf. Weil der Arbeitsplatz unsicher ist, die Firma Dauer-Flexibilität von ihrer Belegschaft verlangt – stets hat die Produktion Vorrang. Das nennen sie dann atmende Fabrik.
Die kann man sich so vorstellen: Gibt es viele Aufträge, atmet das Unternehmen Leute ein; gehen die Aufträge zurück, atmet es sie aus. Auch DS Smith in Minden hat Luft geholt – und beim Ausatmen sechs befristet Beschäftigte ziehen lassen, darunter zwei in Minden ausgebildete Packmitteltechnologen. Die fehlen jetzt. Seit Wochen sind Stellen frei. Dennoch erhält jeder Neueingestellte wieder nur einen befristeten Arbeitsplatz. »Wenn ihr die Leute halten wollt, stellt sie fest ein.« Ein Satz, den Betriebsräte ständig wiederholen. Doch Geschäftsleitungen vor Ort beugen sich den Vorgaben aus den Konzernzentralen – ob DS Smith, Smurfit Kappa oder anderswo. Dort heißt es: befristet einstellen.
Nicht ausbilden, aber jammern
Auch Packmitteltechnologen werden gesucht, oft nicht gefunden und oft auch nicht ausgebildet. Die Ausbildungszahlen sind so niedrig wie 2003. »Die Betriebe bilden seit Jahren zu wenig aus«, kritisiert Burkhard Winterhoff, Betriebsratsvorsitzender bei MM Graphia in Bielefeld. Nun werde der Mangel an Fachkräften bejammert.
Was tun die Unternehmen? Viele tun nicht viel. Sie schalten Anzeigen, präsentieren sich auf Ausbildungsmessen und warten auf Bewerbungen. Einige wenige zahlen Prämien für jeden Neueingestellten, Fahrtkostenzuschüsse, Umzugsbeihilfen. Kaum ein Unternehmen tut, was nötig wäre: unbefristet einstellen, Probezeiten verkürzen, Schichtarbeit aufs Nötigste reduzieren und die Arbeitszeit für die Beschäftigten planbar machen. »Alles müsste attraktiver sein und es müsste vor allem über Tarif gezahlt werden«, sagt ein Betriebsrat.
Ganz wichtig: In der nächsten Tarifrunde im Herbst müssten höhere Löhne durchgesetzt werden. »Sonst bekommen wir keine guten Fachleute.« Denn bei den Bewerbern und Bewerberinnen macht sich ein neuer Trend bemerkbar: Sie fragten selbstbewusst nach Sozialleistungen, Sabbaticals, Home- office und Ferienbetreuung für Mitarbeiterkinder, sagt Peter Poppitz, Betriebsratsvorsitzender beim Ravensburger Spieleverlag. Dort in der Gegend sei die Arbeitslosenquote klein, die Konkurrenz an gut zahlenden Unternehmen groß. »Gute Facharbeiter können ihre Bedingungen diktieren.«
Jonas F. schiebt die Entscheidung, mit seiner Freundin zusammenzuziehen, hinaus. Der Umzug in eine größere Wohnung, die höhere Miete – das ist ihm zu riskant. Denn sein Arbeitsvertrag ist nur befristet. Das geht nicht nur ihm so. 2,8 Millionen Beschäftigte haben nur befristete Verträge; das sind 1 Million mehr als vor 20 Jahren. Fast jede zweite Neueinstellung erfolgt befristet. Besonders betroffen sind junge Leute. »Der Chef muss doch schauen, ob einer was taugt«, sagt ein Betriebsrat. Irrtum. Dafür ist die Probezeit da. Tatsächlich nutzen Unternehmen befristete Verträge, um Beschäftigte schneller wieder loswerden zu können. Sie nutzen sie ebenso zur Disziplinierung, denn eine Befristung macht fügsam: Wer auf eine feste Übernahme hofft, macht klaglos Überstunden, geht krank zur Arbeit und traut sich nicht zu streiken. Grundlose Befristungen – die nicht der Vertretung für Elternzeit oder Krankheit dienen – sollten abgeschafft werden, fordern Gewerkschaften. Die große Koalition will sie stattdessen nur eindämmen.