Strichätzung

Quarantäne-Fernsehen

Es gab eine Zeit, da wollte jeder zur Arbeiterklasse gehören. Nicht Arbeiter sein, aber zur Arbeiterklasse gehören. Die Proletarier verdienten zwar am wenigsten Geld; trotzdem gab es eine Arbeiterehre, einen Arbeiterstolz und eine Arbeiterkultur mit Arbeiterchören und -vereinen. Selbst die 68er-Bürgerkinder wollten Arbeiter sein und gingen freiwillig in die Fabriken.

Dann kam das Privatfernsehen. Oder wie Helmut Kohl es nannte: die geistigmoralische Wende. RTL denunzierte die Unterschicht als Volldeppen-Karikaturen, die nackt, niveau- und würdelos alles vor der Kamera anstellten, um auch noch den letzten Rest von Arbeiterehre aus dem öffentlichen Bewusstsein auszumerzen.

Ob Big Brother oder Promis unter Palmen, ob Let’s dance, Das Supertalent oder das Dschungelcamp – ist Ihnen mal aufgefallen, dass diese ganzen Formate seit Jahren Quarantäne-Fernsehen sind. Immer werden irgendwelche verhaltensgestörte Menschen in irgendwelchen geschlossenen Abteilungen in verriegelten Gebäuden auf klinikähnlichen Studiogeländen zusammengesteckt und vom Pflegepersonal aufeinandergehetzt, wie bei »Einer flog übers Kuckucksnest«. Bei DSDS lässt Dieter Bohlen als Chefarzt Migrantenkinder aus Problemvierteln bekannte Lieder nachsingen. Bei GNTM quält Heidi Klum die Insassinnen, wobei die Versuchsanordnung darin besteht, wie weit die Meeedchen sich demütigen lassen: Wollen alle Top-Model werden und enden drei Monate nach dem Finale als Beiwerk mit goldenen Armbändchen auf irgendwelchen Banker-Partys. Gesteigert wird die absolute Verwertbarkeitsmasche nur noch durch den Bachelor oder die Bachelorette.

Die Botschaft für die zuschauende Unterschicht lautet jedoch immer: Wer sich nicht ficken lässt, ist raus! Niemand will heute mehr Arbeiterklasse sein, nicht einmal sie selbst. Klingt komisch, liebe Mausfreunde, ist aber so.

Robert Griess

www.robertgriess.de