»Wut im Bauch«
Beschäftigte verlangen Wertschätzung und finanzielle Anerkennung fürs Ranklotzen | ver.di fordert 4,8 Prozent mehr Lohn und Gehalt für die Papierverarbeitung
Auch während des Herbst-Shutdowns bescherte die Corona-Krise der Papierverarbeitung volle Auftragsbücher: Um Ansteckungsrisiken zu reduzieren, meiden die Menschen Fußgängerzonen und Kaufhäuser. Gekauft wird vor allem übers Netz. Der Online-Handel steigerte seinen Umsatz im dritten Quartal um 13,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahresquartal, wie der Bundesverband E-Commerce und Versandhandel Deutschland mitteilte. Bestellen, verpacken, liefern – das bringt auch das Geschäft von Wellpappe und Faltschachtel auf Touren. Ausnahmen gibt es lediglich in Betrieben, die Verpackungen für die Auto- und die chemische Industrie herstellen.
»In den meisten Standorten bei DS Smith läuft es gut«, bestätigt Werner Kulack von der ver.di-Tarifkommission. Zurzeit werde aus Deutschland sogar ein Werk in Großbritannien bei der Bewältigung der Amazon-Aufträge unterstützt. Die guten Umsätze sind Grund genug, mehr Lohn in der Tarifrunde zu fordern. Am Standort in Minden gibt es ein weiteres Motiv: Während der drei Kurzarbeitmonate im Sommer hatte der Konzern den Beschäftigten eine Aufstockung des Kurzarbeitergeldes verweigert. »Die mangelnde Wertschätzung hat die Belegschaft nicht vergessen. Sie will sich die finanzielle Anerkennung jetzt in der Tarifrunde holen«, erklärt Betriebsratsvorsitzender Kulack.
Kurze Laufzeit gefordert
»Wut im Bauch« hätten auch Belegschaften bei MM Graphia gehabt, sagt Burkhard Winterhoff. Aus der Produktion hieß es: »Während sich die einen ins Homeoffice zurückziehen, mussten wir ohne Ende ranklotzen, ohne dass sich der Arbeitgeber erkenntlich zeigt.« Außer in Bielefeld. Dort habe der Betriebsrat eine Corona-Prämie durchgesetzt, sagt Winterhoff, Betriebsratsvorsitzender und Tarifkommissionsmitglied.
Die Forderung von 4,8 Prozent ist so hoch wie die im öffentlichen Dienst. Und entspreche dem Willen der Kolleg*innen, die bei der Beschäftigtenbefragung mitgemacht haben, sagt Benjamin Epple, seit Kurzem Mitglied der Tarif- und Verhandlungskommission.
Auch bei Smurfit Kappa, dem größten Konzern der Papierverarbeitung in Europa, floriert das Geschäft. Dieses Jahr wird das drittbeste Ergebnis seit der Fusion von Smurfit mit Kappa Packaging vor 15 Jahren erwartet. Trotz der guten Zahlen in der Branche geht der Gesamtbetriebsratsvorsitzende Uwe Knorr von einer schwierigen Tarifrunde aus. Wichtig sei ver.di außerdem eine kurze Laufzeit des Tarifvertrags: jetzt verhandeln, schnell abschließen, nach einem Jahr neu verhandeln.
Der Zeitplan
Der Lohntarifvertrag in der Papierverarbeitung läuft am 31. Januar 2021 aus. Das ist das Ende der Friedenspflicht. Die erste Verhandlung mit dem Hauptverband Papier- und Kunststoffverarbeitung (hpv) ist für den 13. Januar 2021 angesetzt.
Mehr Arbeit durch Corona
Beschäftigtenbefragung in der Papierverarbeitung: Lohnplus mehr als verdient
Der Rücklauf war hoch: Fast 3.200 Kolleg*innen aus 92 Betrieben haben bei der Beschäftigtenbefragung von ver.di mitgemacht. Das sind doppelt so viele wie 2016. Einer der Gründe für den hohen Rücklauf könnte die Corona-Pandemie gewesen sein, vermutet der ver.di-Tarifsekretär für die Papierverarbeitung, Frank Schreckenberg. Denn die hat den Beschäftigten in der Papierverarbeitung viel ab verlangt: Ein Drittel der Befragten gab an, dass mehr Aufträge bewältigt werden mussten, zum Teil wurden Sonderschichten gefahren. Bei etwa einem weiteren Drittel blieb die Auftragslage unverändert. Die übrigen Befragten stellten einen Rückgang fest.
Zu Kurzarbeit führte das aber nicht: Wie von ver.di schon während des Shutdowns in den Frühjahrsmonaten festgestellt, ging die Krise an der Papierverarbeitung weitgehend vorbei. Über 80 Prozent der Befragten waren nicht in Kurzarbeit. »Es gibt demnach für den Unternehmerverband hpv keinen Grund, eine Corona-Dramatik herbeizureden und damit niedrige Lohnerhöhungen zu begründen«, sagt Schreckenberg. Viele Beschäftigte hätten durch das hohe Aufkommen bei Versandverpackungen mehr denn je zu tun gehabt. Das sollte sich auch in einem ordentlichen Lohnplus zeigen.
Frank Schreckenberg und Simone Dziedzioch werten kistenweise Fragebögen aus.
Das sehen die Beschäftigten auch so: Von knapp 3.200 Befragten finden fast 2.900 eine Lohnerhöhung von vier bis fünf und mehr Prozent angemessen. Die Mehrheit ist auch bereit, sich dafür bei einem Arbeitskampf einzusetzen. Darunter auch viele Nicht-Mitglieder. Die haben sich an der Befragung ohnehin gut beteiligt: Fast ebenso viele Nicht-Mitglieder wie Mitglieder wollten ver.di ihre Meinung mitteilen.
»Diese Beschäftigten, die noch nicht in ver.di organisiert sind, werden wir versuchen bestmöglich in unsere Aktivitäten einzubeziehen«, erklärt Frank Schreckenberg. »Natürlich wollen wir sie auch von einer Mitgliedschaft in ver.di überzeugen, um gemeinsam mehr zu erreichen.«
Männlich, gewerblich
Bei der ver.di-Beschäftigtenbefragung vom 1. Oktober bis 6. November 2020 beteiligten sich genau 3.173 Kolleg*innen. Die Fragebögen gingen an rund 130 Betriebe und wurden von ver.di-Betriebsräten verteilt. Rücklauf kam aus 92 Betrieben. Die überwiegende Zahl der Befragten ist männlich, die Hälfte (1.785) im gewerblichen Bereich beschäftigt. 870 Rückmeldungen gab es von Angestellten, 87 von Auszubildenden und über 400 machten dazu keine Angabe.
Vertagt aufs Frühjahr
Wegen der Corona-Beschränkungen fielen die Verhandlungen zwischen dem Unternehmerverband bvdm und ver.di am 16. und 17. November aus. Die Gespräche zum Manteltarifvertrag werden im Frühjahr 2021 fortgeführt.