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Wer liest schon freiwillig 
30 Seiten Protokoll?

Eine Art Comic gegen die Schläfrigkeit bei Tagungen | DRUCK+PAPIER hat Franziska Ruflair beim Graphic Recording über die Schulter geschaut: zuhören, filtern, zeichnen, schreiben – und das blitzschnell.

Eine Konferenz. Gut 120 Delegierte des ver.di-Landesbezirks Rheinland-Pfalz-Saarland hocken zwei Tage lang in einem Kongresssaal in Frankenthal bei Ludwigshafen. Sie wählen Vorstände und Beisitzer*innen und diskutieren über Anträge. Doch immer wieder zieht es Frauen und Männer ins große Foyer. Sie bringen einer jungen Frau Klebezettel mit kurzen Botschaften. Franziska Ruflair schaut einen nach dem anderen an. Kurz steht sie in sich gekehrt vor der mannshohen Papierwand – dann legt sie los.

Das bleibt im Gedächtnis

Franziska Ruflair betreibt Graphic Recording – eine Methode, die immer populärer wird, um Tagungsinhalte, Reden oder Diskussionen grafisch auszudrücken. Sie kommen in einer Mischung aus Text und Zeichnungen aufs Papier. Man behält sie besser im Gedächtnis, weil rationales Denken und Kreativität im Gehirn gleichermaßen gefragt sind.

Die Graphic Recordings von Franziska Ruflair werden fotografiert und dann gedruckt oder per Mail verschickt. Lesen lässt sich das wie eine Art Comic. »Das macht fast jeder gern«, sagt Ruflair. »Aber wer liest schon freiwillig 30 Seiten Protokoll?«

Das Graphic Recording ist eine Spielart der zuerst um 1950 in Texas angewandten Visual Facilitation (etwa: Abstraktes in Kombination von Text und Bildern sichtbar machen). Das Team eines Architekturbüros schrieb, malte, zeichnete und fotografierte damals seinen Planungsprozess und ordnete ihn auf Bildwänden. In den 1970er-Jahren begannen Designer*innen und Architekten in Kalifornien, Gruppenprozesse in Wandbildern sichtbar zu machen. Nach Europa kam das Graphic Recording ab den 1990er-Jahren.

Mehrere Gedankenspuren 
gleichzeitig

Meistens geschieht das Graphic Recording vor aller Augen. Gezeichnet wird live auf der Bühne, neben dem Referenten. Franziska Ruflair muss zuhören, sich ein Bild dazu ausdenken und es schnell zeichnen. »Da habe ich drei oder vier Gedankenspuren gleichzeitig im Kopf.« Und dabei ist sie keineswegs vom Fach: Neulich hat sie vor Chemiker*innen zum Thema Wasserstoff-Elektrolyse an Windkraftwerken gezeichnet.

In Frankenthal macht Ruflair kein klassisches Graphic Recording. Da haben die ver.di-Delegierten zur Auflockerung ihrer Tagung die Aufgabe bekommen, die Frage »Feminismus ist …?« zu beantworten. Schließlich ist es der 8. März, der Internationale Frauentag.

Franziska Ruflair wurde für den dju-Journalistentag in Berlin engagiert. Aus den Vorträgen und Diskussionen machte sie ein Wandbild. »Das Ergebnis war hinreißend«, sagt die dju-Geschäftsführerin Conny Berger. Das Bild hängt jetzt im Flur der Bundesverwaltung von ver.di. Foto: Jan-Timo Schaube

Bevor sie die Stifte auspackt, hat sich Franziska Ruflair mit dem Thema der Konferenz beschäftigt und ein Farbkonzept überlegt. Hier zeichnet sie beim ver.di-Landesbezirk Rheinland-Pfalz-Saarland. 
Foto: Rüdiger Mosler

Franziska Ruflair macht sich ans Werk: »Dem Gockel-Gehabe den Boden entziehen.« Sie schreibt den Satz zuerst mit schwarzem Faserstift. Dann zieht sie damit auch die Umrisse eines Lochs im Boden, aus dem ein paar Gockelfedern ragen – und eine Sprechblase mit Totenkopf und Wut-Krakeln. Koloriert wird es mit wenigen Farben, die Ruflair vorher passend zur 
Veranstaltung ausgewählt hat. »Bei ver.di muss Rot dabei sein.« Dazu Blau, Pink und Ocker. Beim Abarbeiten der Klebezettel kommt die Graphic-Recorderin immer wieder mit den Teilnehmern und Teilnehmerinnen der Konferenz ins Gespräch. Eine Frau schaut ihr über die Schulter: »Ich finde das klasse. Wenn bildhaft protokolliert wird, schlafe ich bei den Reden nicht so schnell ein.«

Franziska Ruflair – gut im Geschäft. 
Foto: Klaus Nissen

Die etwas andere 
Protokollantin

Franziska Ruflair, 27, hat in Mainz Kommunikationsdesign studiert. Erst nach ihrem Studium lernte sie das Graphic 
Recording. Jetzt ist sie wie ihre rund 
100 Berufskolleg*innen stark gefragt. 
Gebucht wird sie von Tagungsveranstaltern, Firmen und Organisationen, die Fortbildungen und Veränderungsprozesse für die Belegschaft zeichnerisch begleiten lassen. Mittlerweile sitzt sie im Bundesvorstand des Berufsverbandes von 1.700 Illustratoren in Deutschland. Weil ihr das Zeichnen auch privat Freude macht, ver
öffentlicht Franziska Ruflair im Avant-Verlag nun einen Comic für Erwachsene: »Das Adventure-Huhn«. Es ist ein Road-
Comic über ein Huhn, das gemeinsam 
mit einer Raupe eine Welt retten will, die sich gar nicht retten lässt.

Ohren, Knopfaugen und Schnurrbarthaare – fertig 
ist der Hase

Brigitte Seibold aus Johannesberg bei Aschaffenburg ist ebenfalls professionelle 
Graphic-Recorderin. Sie sagt, man könne auch ohne Zeichentalent private Bild
notizen (der Fachbegriff: Sketchnotes) machen. In Seminaren gibt sie dazu 
Tipps: »Es geht gar nicht darum, ein 
Objekt detailliert darzustellen. Unser 
Gehirn muss es nur schnell erkennen. Beim Hasen zeichne ich zum Beispiel nur die Ohren, die Knopfaugen und die Schnurrbarthaare. Einen Herd stelle ich am einfachsten von oben dar: ein Quadrat mit vier runden Kochfeldern darin.« Brigitte Seibold zeichnet Köpfe oft als Ovale – ohne Frisuren und Gesichtszüge. Auch abstrakte Begriffe könne man zeichnen. Glück ist für Seibold ein mit fünf Strichen skizzierter Mensch auf Wolke 7. Weitere Hinweise gibt Brigitte Seibold 
auf ihrem Blog www.prozessbilder.de 
und in Büchern.