Lesegeschichte

Bücher aus dem Automaten 
für ein paar Pfennige

In Leipzig öffnete das weltweit erste und einzige Reclam-Museum

Für die einen preiswert-karge Pflichtlektüre, für die anderen treue Begleiter und Garant für Lesevergnügen. Fast jeder kennt sie: Reclams Universal-Bibliothek (UB) heißt die älteste noch existierende deutsche Taschenbuchreihe offiziell. Sie umfasst nicht nur knapp 30.000 Hefte, sondern hat auch mehr als 150 Jahre Verlagsgeschichte geschrieben. Seit Kurzem informiert ein kleines Museum im Leipziger Grafischen Viertel.

Lesen im Museum ist erwünscht

Leipzig passt, denn hier wurde der Verlag Philipp Reclam jun. gegründet. Fast alle Ausstellungsstücke stammen aus Hans-
Jochen Marquardts Sammlung, die er über 50 Jahre zusammengetragen hat. Zu jedem Stück kann der Literaturwissenschaftler, Vereinsvorsitzende und Museumsfachmann erzählen, gern historisch-hintergründig und umfassend, notfalls auch kurz.

Besucher*innen können rechts hinten beim Literarischen Museum von 1828 einen Rundgang beginnen und über »Faust I« als Heft 1 der Universal-Bibliothek genau der Chronologie folgen. Sie dürfen aber auch ein Bändchen aus einem der riesigen Regale nehmen und für den Rest des Nachmittags im Lesesessel versinken.

Mit »Faust« von 
Johann Wolfgang von Goethe – das erste Heft der 
Bibliothek – startet der Rundgang 
im Museum. Foto: wikipedia.org 

Wer sich über Leben und Werk von fünf Generationen Reclam-Verlegern informieren will, wird ebenso fündig wie zu Produktionsstätten in Leipzig, Stuttgart und Ditzingen. Und natürlich werden die Reclam-Hefte in den Erscheinungsformen seit 1867 vorgeführt. Da war nicht immer Gelb oder Schwarz-Weiß. Anfangs gab es Ranken und Schnörkel auf Rosenholz-Untergrund, später Jugendstil, klassizistische oder neue Sachlichkeit auf den Titelblättern, lange Zeit setzte man in Fraktur. Versierte Buchgestalter sorgten für die Langlebigkeit der Universal-Bibliothek. Und 50 Jahre lang blieb es bei einem Verkaufspreis von zwei Silbergroschen oder 20 Pfennigen.

Zunächst als reiner Nachdruckverlag gestartet, wurden ehrgeizig-hohe Auflagen später durch verlegerische Mischkalkulation möglich. Klassikerausgaben finanzierten den Druck moderner Lyriker oder von Erstlingswerken. Naturwissenschaftliche, juristische und philosophische Themen sowie Opernlibretti wurden genauso ins Programm genommen. Bis zum 150. Jubiläum im November 2017 wurden jedenfalls 600 Millionen Exemplare verkauft, hieß es aus Stuttgart.

Schnell noch ein Heft für die Zugfahrt

Funktionierendes Marketing gehörte stets dazu. So kam, nachdem 1908 die 5.000er-Marke an Reclam-Heften bereits überschritten war, der passende Altarschrank zur Aufbewahrung der vollständigen Sammlung auf den Markt. Umsatz sicherten 2.000 Verkaufsautomaten, die seit 1912 Reclam-Hefte an Bahnhöfen und in Stadtzentren unter die Leser und Leserinnen brachten. Und während der Weltkriege erfand man tragbare Feldbibliotheken.

Ost und West getrennt

1948 hatte sich die Verlagsspitze aus der sowjetisch besetzten Zone abgesetzt. Danach erfolgte Reclam-Produktion zweigeteilt. Vom kalten Krieg zwischen Stuttgart und Leipzig kündet eine paritätisch bestückte Bücherwand im Museum, die zu Vergleichen anregt. Zurück zu den Wurzeln – das war für die Reclam-Erben nach der Wiedervereinigung offenbar keine Option. 2006 endete im reprivatisierten Leipziger Stammhaus die Produktion von Reclam-
Büchern. Zur Museumseröffnung Ende 
Oktober 2018 war die Verlagsspitze 
jedoch prominent vertreten. Einen Automatennachbau als Dauerleihgabe hatte man bereits vorausgeschickt. Der funk
tioniert auch: Über zwei Griffe die exakte Fachnummer einstellen, Hebel ziehen, schon fällt das Buch in eine Mulde – eine antiquarische Ausgabe von Heft 91: »Der zerbrochene Krug« von Kleist.

Informationen für den Besuch

Träger des Reclam-Museums ist der gemeinnützige Verein Literarisches Museum, benannt nach Reclams erstem Leipziger Verlagshaus. Die kleine Schau ist auch als Präsenzbibliothek angelegt, in der das 
gerade als E-Book erschienene, vollständige Verzeichnis der Universal-Bibliothek 
(1867–1945) ausliegt. Im Museum finden auch Veranstaltungen und Lesungen statt.

Das Reclam-Museum in der Kreuz
straße 12 in Leipzig ist dienstags und 
donnerstags von 15 bis 18 Uhr oder 
nach Vereinbarung geöffnet. Der Zugang ist nicht barrierefrei. Der Eintritt ist frei. Telefon: 0345-5821726. 
www.literarisches-museum.de.

Nummer wählen, Geld einwerfen, Hebel ziehen, schon fällt das Buch heraus.
Foto: Hans-Jochen Marquardt