Unterwegs zum letzten Schriftgießer
Bei Rainer Gerstenberg in seiner Werkstatt im Haus der Industriekultur in Darmstadt
Ein imposantes Gebäude, über 100 Jahre alt, Jugendstil mit Klinkerfassade – damals wurden in der Fabrik Hofmöbel hergestellt, heute ist hier das Druckmuseum zu Hause. Rund ein Dutzend Ehrenamtliche, darunter Schriftsetzer und Drucker, zeigen den Besuchern gerade ihr Handwerk und erklären, was an Gutenbergs Erfindung so genial war.
Zum Leben erweckt
Zwei Stockwerke höher geht es zu Rainer Gerstenberg. Die Stahltür fällt zu. Ganz hinten, wo es nach Öl riecht und das auf 360 Grad erhitzte Blei blubbert, beugt sich Rainer Gerstenberg über seine Maschine – eine Komplett-Gießmaschine der Firma Stempel aus den 1940er-Jahren. Er nimmt vorsichtig eine Letter heraus – mit Fuß und Kopf und auf dem ist ein japanisches Schriftzeichen. Davon stellt er gerade viele für einen Kunden her. 10 bis 20 Kilogramm Lettern schafft er am Tag.
Johannes Gutenberg war der erste, Rainer Gerstenberg ist womöglich der letzte Schriftgießer. Dazwischen liegen um die 570 Jahre, in denen der Fotosatz den Bleisatz verdrängt hat. Eine Million Gießformen, die Matern, lagern im Keller, dazu welche bei ihm zu Hause und in der Schweiz; in den Regalen Schriften von Nebiolo aus Italien und aus Deutschland Helvetica-Garamond und Palatino – aber niemand kann mehr Lettern gießen, nur Gerstenberg.
Er findet es wunderbar, »aus den Matern wieder Leben zu erwecken«. Das macht er für Kunden, die das »klare Schriftbild« zu schätzen wissen, etwa Verlage oder Museen. An Kunden fehlt es nicht. Hier drin, sagt er und blättert durch das abgegriffene Buch mit dem Titel »Universal-Schriftproben«, sind alle Buchstaben, die er gießen kann: kyrillische und lateinische, arabische, griechische. Und seine Lieblingsschrift: die Delphin, »so akribisch«, mit den Schnörkeln an den kleinen Buchstaben.
Gutenbergs Erbe
Während andere Leute ihre Rente genießen, »hab’ ich mir eine Schriftgießerei an den Hals gehängt«, sagt der 71-Jährige, lacht und nimmt die Uhrmacherlupe vom Auge. Seine Werkstatt ist so groß wie ein Basketballfeld und hat 53 Maschinen, die alle funktionieren. Sie stammen von der Firma Stempel, der einst größten europäischen Schriftgießerei, und einer Tochterfirma aus der Schweiz. Bei Stempel hat Gerstenberg 1961 sein Handwerk gelernt, dort war er Betriebsratsvorsitzender, erst Mitglied der IG Druck und Papier, später der IG Metall. Das Unternehmen war zum Metallarbeitgeberverband gewechselt, weil das billiger war. Als Stempel 1985 von der Firma Linotype liquidiert wurde, machte sich Gerstenberg selbstständig: der Einzige, der Gutenbergs Technik kommerziell beherrscht.
Haus der Industriekultur, Darmstadt, Kirschenallee 88