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Von Feuerwaffen, 
schweren Rucksäcken und
 
runtergelassenen Hosen

Drei Betriebs- und Konzernbetriebsratsvorsitzende blicken zurück: 
Kämpfe, Erfolge und Niederlagen | Jetzt beginnt das neue Leben

Sie sind auf dem Sprung oder schon weg. Peter Reinold, Detlef Schütz und Bernd Johannsen haben es (fast) geschafft: Ihr Berufsleben ist zu Ende. Mit ihnen gehen 60 Jahre Betriebsratserfahrung. Ein Buchdrucker, ein Schriftsetzer und ein Industriebuchbinder schauen zurück. Was hat euch zu schaffen gemacht? Was habt ihr erreicht? Und wie geht es weiter?

Wolltest du mal alles hinwerfen?

Bernd Johannsen: Oh ja. Und wie. 2005 ist uns die Geschäftsführung massiv angegangen. Der Betriebsrat sollte zustimmen, dass eine halbe Stunde pro Tag gratis gearbeitet wird. Im Gegenzug verzichte Clausen & Bosse auf betriebsbedingte Kündigungen. Der Belegschaft war es wichtig, weder Urlaubsgeld noch Jahresleistung zu verlieren. Lieber länger arbeiten. Der Haken: Das war nicht tarifkonform. Nach dem Tarifvertrag kann zur Sicherung von Arbeitsplätzen Arbeitszeit kürzer, aber nicht länger werden. Dagegen dürfen Urlaubsgeld und Jahresleistung ganz oder teilweise wegfallen.

Du warst noch nicht lange in der Tarif
kommission  …

Johannsen: … und erst kurz als stellvertretender Betriebsratsvorsitzender freigestellt. Ich kann mich noch gut erinnern, wie sie 
alle bei der Sitzung der Tarifkommission 
an dem langen Tisch saßen. Gestandene Betriebsräte, die mit Feuerwaffen den 
Manteltarifvertrag mit der 35-Stunden-
Woche verteidigten. Die ich gerade im Betrieb preisgegeben hatte. Und dort musste ich die Hosen runterlassen. Der Konflikt 
hat mich wirklich durchgeschüttelt. Nachts bin ich hochgeschreckt und dachte: Ich schmeiß alles hin.

War die Entscheidung damals richtig?

Johannsen: Ich wusste, dass die Kollegen das Urlaubsgeld fürs tägliche Leben brauchten und damit keinen Luxusurlaub buchten. Ich habe für die längere Arbeitszeit votiert, weil ich die Arbeitsplätze schützen wollte. Aber wenn ich damals das Wissen von heute gehabt hätte, wäre ich darauf nicht eingegangen. Die angeblich schwierige Marktsituation entpuppte sich als doch nicht so schwierig.

Oft kommt der Druck auf euch von allen Seiten: von der Geschäftsführung, der Belegschaft, der Gewerkschaft. Wie hält man das aus?

Peter Reinold: Mit Disziplin. Aufstehen, auch wenn man lieber im Bett liegen bleiben möchte. Im Garten umgraben und ackern. »Oh, gibt es wieder viele Probleme«, hat meine Frau mit Blick auf die Beete gesagt.

Bernd Johannsen

(63), hat bei 
Clausen & Bosse Industriebuchbinder gelernt. 2002 wurde er in den Betriebsrat gewählt, ein Jahr später freigestellt und 2006 dessen Vorsitzender. Die tarifgebundene Buchdruckerei Clausen & Bosse ist seit 2001 Teil der französischen CPI Gruppe. Die gehört dem 
französischen Mischkonzern Impala 
(52 Prozent) und zu je 24 Prozent einer öffentlichen Bank und einer Gruppe privater Investoren. Im nordfriesischen Leck arbeiten 545 Beschäftigte.
Foto: privat

Peter Reinold

(65), hat beim Westfalen-Blatt in Bielefeld vom Buchdrucker zum Rotationsdrucker umgeschult. Er gehört dem Betriebsrat seit 1990 an und wurde 1994 zu dessen Vorsitzenden gewählt. Das tarifgebundene Westfalen-Blatt gehört mehrheitlich der Familie Busse, weitere Anteile halten Dirk Ippen und die Aschendorff-Gruppe. Im Druckzentrum arbeiten rund 100 Beschäftigte; Redaktion und weitere Abteilungen mit 220 Leuten gehören zu einer eigenständigen Firma.
Foto: werkzwei, David Bärwald

Was war da los?

Reinold: Wir hatten zehn Jahre lang einen wilden Geschäftsführer, gegen dessen 
Widerstand wir alles erkämpfen mussten. Der hat mich mal als Totengräber der Firma bezeichnet. Wir haben zig Beschlussverfahren in Gang setzen müssen, weil er dauernd die Rechte des Betriebsrats verletzt hat. Meine Betriebsratsarbeit habe ich oft in 
der Zeit nach der Nachtschicht erledigt – ich war noch nicht freigestellt – und nur drei, vier Stunden geschlafen. Das war eine harte 
Zeit. Meine Frau sagte damals: »Wenn du keine Freistellung bekommst, musst du 
dir ein anderes Zuhause suchen.« Ein harter Einschnitt war für mich auch die Schließung unserer Bildungsstätte in Lage-Hörste. 
Darüber bin ich jetzt noch nicht richtig 
hinweg.

Ihr seid mit vielen Idealen ins Amt gegangen. Musstest du welche über Bord werfen?

Detlef Schütz: Mir fällt ein Satz von Tucholsky ein: »Nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter, als sich im offenen Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: NEIN!« Du stehst als Betriebsrat zwischen den Fronten und weißt: Das hört nicht mehr auf mit dem Personal
abbau, das hältst du auch nicht auf, du kannst es nur begleiten und so soft wie möglich gestalten. Du darfst den Mut nicht verlieren, du musst vermitteln, trösten, 
ermutigen. Und stellst fest, das ist die Grenze, mehr geht nicht, mehr kannst du für die Kollegen und Kolleginnen nicht erreichen.

Welche Veränderung in den vergangenen Jahren würdest du als besonders einschneidend bezeichnen?

Schütz: Die Übernahme durch Madsack. Madsack heißt: immer noch mehr zentralisieren. Noch mehr Personal verringern. In immer kleinere Einheiten zerlegen. Es ist fast nicht möglich, Strukturen am Leben zu erhalten. Du verlierst im wahren Sinn des Wortes die Stimmen auf der Wählerliste. Die Geschäftsleitung von Madsack arbeitet zielsicher darauf hin, betriebsrätliche Strukturen zu zerschlagen und funktionierende Betriebsratsgremien auszuschalten.

 

Klingt pessimistisch.

Schütz: Ist es auch. Ich beobachte, wie Menschen und ihre Berufe entwertet werden. Hauptsache, die Dividende ist zweistellig.

Ihr hattet immer auch Funktionen in ver.di, oft mehrere, und gehörtet zur Tarifkommission. Warum?

Schütz: Es war gut, nicht im eigenen Saft zu schmoren. Leider wurde der Rucksack manchmal dann doch zu schwer und es gab den einen oder anderen Warnschuss für die Gesundheit.

Reinold: In den verschiedenen Funktionen lernt man nicht nur neue Kolleginnen und Kollegen kennen. Es geht auch darum, 
sich zu vergewissern, ob der eigene Kurs stimmt.

Johannsen: Auf ver.di-Konferenzen und in Tarifkommissionen war immer Gelegenheit, sich mit anderen Betriebsräten auszutauschen. Es ist wichtig zu erfahren, wie die anderen mit Problemen umgehen. Und was in anderen Häusern passiert. Auch um von Geschäftsleitungen nicht gegeneinander ausgespielt zu werden.

Eure Belegschaften haben stets mitgestreikt, wenn die Gewerkschaft aufgerufen hat, den Manteltarifvertrag zu verteidigen oder mehr Lohn zu fordern. Ihr drei seid auch bekannt dafür, dass ihr über den Betrieb hinausgeschaut habt. Ihr wusstet: Was ihr heute an Verschlechterungen zulasst, ist morgen Thema in anderen Betrieben. Auf welche Erfolge seid ihr stolz?

Reinold: Dass wir es geschafft haben, die Spaltung zwischen Redaktion und Druck zu verkleinern. In den vergangenen zehn Jahren sind wir zusammen vors Tor gegangen: die Drucker für die Redakteure und umgekehrt. Es war auch wichtig, dass wir Vertrauensleute etabliert haben. Auf sie konnte ich mich bei Streiks immer verlassen. Ich war ja nicht da, sondern bei den Tarifverhandlungen.

Johannsen: Dass wir tarifgebunden sind. Und Leiharbeit und Fremdfirmen bei uns nicht eingezogen sind.

Schütz: Wir haben uns 1995 zurück in den Tarif gestreikt. Und einen Stufenplan erkämpft. Danach reduzierte sich die Arbeitszeit nach acht Jahren von 38 auf 35 Stunden pro Woche. Das gab es nur in Mecklenburg-Vorpommern, als einzigem in den fünf neuen Ländern. Und unser Streik 2006 wegen der Besetzung der neuen Druckmaschine. Bei minus 20 Grad haben wir vor dem Tor gestanden und mit lediglich 
zwei Prozent der Belegschaft zwei Wochen lang durchgehalten. Unser Streik und eine exzellente Besetzung der Einigungsstelle waren der Grund für die damals beste 
Maschinenbesetzung für den neuen Druckmaschinentyp.

Detlef Schütz ist schon ausgeschieden, 
Peter Reinolds letzter Arbeitstag ist der 
31. März und Bernd Johannsen will sich 2019 entscheiden, wann er aufhört. Neues Leben – was nun?

Reinold: Ich brauche erst mal Luft und will ein halbes Jahr gar nichts planen. Vielleicht gärtnern. Aber ohne zu ackern.

Johannsen: Erst mal bin ich froh, wenn der Druck abfällt. Und sonst? Fliegenfischen, als DJ Musik auflegen, vielleicht engagiere ich mich politisch. Und Enkelkinder habe ich auch.

Schütz: Alte Kontakte auffrischen, mich um die Hühnerzucht kümmern und mich freuen, nicht mehr so getaktet zu sein. Es gibt ja ein Leben nach ver.di und dem Betriebsrat – ich bin dann mal wech!

Die Interviews wurden einzeln und am Telefon geführt.

Detlef Schütz

(62), hat in der DDR beim Ostsee-Druck in Rostock Schriftsetzer gelernt. Während seiner Armeezeit arbeitete er in der Militärdruckerei und war der einzige Schriftsetzer in Marineuniform. Er war seit 2002 Mitglied des Betriebsrats, viele Jahre stellvertretender Vorsitzender des Betriebsrats und ab 2010 Vorsitzender des Konzernbetriebsrats. Die tarifgebundene Ostsee-Zeitung mit rund 330 Beschäftigten ist eine Tochter der Lübecker Nachrichten, die der Verlagsgesellschaft Madsack gehört.
Foto: H. Klonowski/Digitalfoto