»Gigantische Fehlprognose«
Mindestlohn ist kein »Jobkiller«. Millionen profitieren. Interview mit Gerhard Bosch
DRUCK+PAPIER: Seit anderthalb Jahren gilt in Deutschland der gesetzliche Mindestlohn. Wie fällt Ihre Bilanz aus?
Bosch: Außerordentlich positiv. Die Löhne sind kräftig gestiegen – gerade für Un- und Angelernte sowie in klassischen Niedriglohnbereichen. Also eine echte Verbesserung. Allerdings verdienen rund 1,4 Millionen Menschen immer noch weniger als 8,50 Euro in der Stunde. Das liegt nicht nur an den Ausnahmen, sondern auch daran, dass Unternehmen den Mindestlohn umgehen – insbesondere bei den Minijobs. Es gab große Befürchtungen, der Mindestlohn könne negative Beschäftigungseffekte haben. Das ist nicht eingetreten. Stattdessen nimmt die Zahl der Arbeitsplätze zu – und zwar gerade in den Bereichen, in denen der Mindestlohn besonders greift.
Der Mindestlohn ist also nicht der vorhergesagte »Jobkiller«?
Gerhard Bosch ist Professor für Arbeits- und Wirtschaftssoziologie an der Uni Duisburg-Essen und war bis vor Kurzem Direktor des Instituts für Arbeit und Qualifikation (IAQ).
Ganz und gar nicht. Das war eine gigantische Fehlprognose, mit der sich die ganze Wirtschaftswissenschaft blamiert hat. Die Präsidenten der großen Institute haben 2008 in einem Aufruf von Arbeitsplatzverlusten im Westen von »erheblichen«, im Osten von »erschütternden Ausmaßen« gesprochen. Sie haben den Mindestlohn nicht empirisch untersucht, sondern ideologisch vorverurteilt. Zugleich haben sie die wenig später einsetzende Finanzkrise nicht vorausgesehen. Und trotzdem: Ihren Frieden hat die Zunft mit dem Mindestlohn immer noch nicht gemacht. Sicher wird jeder Beschäftigungseinbruch in künftigen Krisen mit dem Mindestlohn in Verbindung gebracht werden.
Die Mindestlohnkommission schlägt eine Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 auf 8,84 Euro pro Stunde vor. Halten Sie das für angemessen?
Auf Initiative von Arbeitgebern und Gewerkschaften hat der Bundestag eine Prozedur beschlossen, wonach sich die Erhöhung des Mindestlohns an der Tarifentwicklung orientiert. Die Arbeitgeber haben dem zugestimmt, weil sie politische Debatten und Entscheidungen vermeiden wollten. Und die Gewerkschaften wollten die Tarifentwicklung zum Taktgeber machen, weil die Löhne in tarifgebundenen Bereichen in der Regel schneller steigen als in der Gesamtwirtschaft. Man kann sich natürlich eine höhere Steigerung des Mindestlohns wünschen, aber das würde die Legitimation dieses an sich guten Instruments erschüttern.
Im internationalen Vergleich hinkt der deutsche Mindestlohn damit aber weiter hinterher.
Das ist absolut richtig. Der Mindestlohn ist hierzulande mit Blick auf die Situation in Ostdeutschland relativ niedrig angesetzt worden. Eine stärkere Erhöhung wäre angesichts der guten wirtschaftlichen Lage im Moment auch sicher möglich. Ich würde das erreichte Prozedere aber wie gesagt nicht aufs Spiel setzen wollen. Meiner Ansicht nach ist die Hauptaufgabe derzeit nicht, den Mindestlohn überproportional zu erhöhen, sondern die Tarifbindung zu stärken.
Für Langzeitarbeitslose, Minderjährige, Zeitungszusteller und andere gelten Ausnahmen. Hat sich das bewährt?
Die Regelung für unter 18-Jährige spielt eine geringe Rolle, weil die meisten in diesem Alter in der Schule oder Ausbildung sind. Die Ausnahme für Langzeitarbeitslose ist ein vollkommener Reinfall. Die Schlechterstellung von Zeitungszustellern war ein Ergebnis politischer Lobbyarbeit. Ende 2017 hat das glücklicherweise ein Ende. Die meisten Ausnahmen haben sich also nicht bewährt. Anders ist es in Fällen, in denen sehr niedrige Einkommen per Tarifvertrag langsam an den Mindestlohn herangeführt werden. Diese Regelung hat dazu geführt, dass in einzelnen Branchen wieder Tarifverhandlungen stattfinden, wo das lange nicht der Fall war.
Die Diskriminierung von Zeitungszustellern wurde mit dem Erhalt der Pressefreiheit begründet. Können Sie das nachvollziehen?
Überhaupt nicht. Das war ein vorgeschobenes Argument. Die Politik hatte offenbar Angst vor einer Medienkampagne und gab dem Drängen der Verleger daher nach.
Manche Unternehmen versuchen, den Mindestlohn durch Tricks zu umgehen. Für wie groß halten Sie dieses Problem?
Es ist noch ziemlich groß. Dass 1,4 Millionen Beschäftigte immer noch weniger als 8,50 Euro pro Stunde verdienen, kann man mit den Ausnahmen alleine nicht erklären. Und es ist vor diesem Hintergrund sehr bedenklich, dass sich die Zahl der Kontrollen des Zolls im vergangenen Jahr verringert hat.
Wie wird der Mindestlohn am häufigsten umgangen?
Vor allem in Kleinbetrieben – in denen die Arbeitsprozesse nicht so formalisiert sind und die Beschäftigten häufig Angst vor Arbeitsplatzverlust haben – gibt es viel unbezahlte Arbeitszeit. Das ist der Hauptmechanismus zur Umgehung des Mindestlohns. Ein anderer Weg ist die Umwandlung von Weihnachts- und Urlaubsgeld in monatliche Zahlungen, die dann in den Stundenlohn eingerechnet werden. Erleichtert wurde das durch Unklarheiten im Mindestlohngesetz. Hier braucht es klare Definitionen.
In einer Stellungnahme haben Sie in diesem Zusammenhang besonders eine Reform der Minijobs gefordert. Warum?
Die Minijobs sind eine Art Freihandelszone im Arbeitsrecht. Viele Unternehmen gehen davon aus, dass man Minijobber nur bei Anwesenheit bezahlt. Auch viele der Betroffenen selbst glauben, sie hätten nicht dieselben Rechte wie andere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das ist aber nicht der Fall. Laut Gesetz müssen sie so behandelt werden wie andere auch. Das heißt: bezahlter Urlaub, Lohnfortzahlung bei Krankheit, bezahlte Feiertage und Kündigungsschutz. Das ist überwiegend aber nicht der Fall. In diesem Bereich ist Rechtsbruch keine Ausnahme, sondern sie wird systematisch betrieben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieses Problem bei Beibehaltung dieser Beschäftigungsform wirklich behoben werden kann. Das Instrument der Minijobs – der geringfügigen Beschäftigung muss daher abgeschafft oder zumindest auf eine Bagatellgrenze von 100, 150 Euro reduziert werden.
Teilweise wird gefordert, Flüchtlinge vom Mindestlohn auszunehmen. Kann das bei ihrer Integration auf dem Arbeitsmarkt helfen?
Wenn geringer bezahlte Flüchtlinge heimische Arbeitskräfte ersetzen, wäre dies das beste Mittel, Fremdenfeindlichkeit zu erhöhen. Die Hauptaufgabe ist es, Flüchtlingen in der sprachlichen, der beruflichen und der allgemeinen Bildung zu helfen. Den Mindestlohn für sie auszusetzen hilft nicht – ganz im Gegenteil.